Wer füllt die (Gottes)-Lücke?

Kritiker bemängeln schon lange eine Entchristianisierung Europas und sprechen von einer Krise der Kirchen. Warum dagegen die Vereinigten Staaten von Amerika weiterhin eine "Bastion des Glaubens" sind, damit beschäftigt sich ein aktueller Beitrag von "Zeit"-Herausgeber Josef Joffe in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung.
Von PRO

Laut Statistik sei für 59 Prozent der Amerikaner Religion "sehr wichtig". Von den westeuropäischen Ländern folgt mit weitem Abstand Italien (27 Prozent). Während im laizistischen Frankreich nur für jeden Zehnten, die Religion bedeutend ist, ist es in Deutschland jeder Fünfte. Dass es einen Gott gibt, glauben in Nordamerika 62 Prozent der Befragten, in Westeuropa sind es lediglich 35 Prozent.

Ob sie in der letzten Woche wenigstens ein Mal in die Kirche oder Synagoge gegangen sind, beantworten in den Vereinigten Staaten 44 Prozent positiv. Unangefochtener Spitzenreiter ist Irland mit 84 Prozent. Auch Polen und Portugal rangieren knapp vor den USA. Schlusslichter sind Dänemark, Lettland, Norwegen, Schweden, Finnland, Estland und Island mit Werten zwischen 4 und 5 Prozent. Über die Hälfte der Amerikanern bejahen, dass man an Gott glauben muss, um ein moralischer Mensch zu sein. In Deutschland ist es jeder Dritte (33 Prozent). Italien (27 Prozent) und Frankreich (13 Prozent) haben niedrigere Werte.

"Wer die Obrigkeit angreifen wollte, musste die Kirchen angreifen"

Joffe findet dafür mehrere historische Ansatzpunkte. Mit dem Augsburger Religionsfrieden konnten die Herrscher in Europa seit 1555 über die Religion ihrer Bürger bestimmen. Im Gegenzug sei die Kirche mit vielfachen Privilegien belohnt worden: "Wer in Europa die Obrigkeit angreifen wollte, musste die Kirchen angreifen." Im Zuge der französischen Revolution wurden alle religiösen Symbole aus dem öffentlichen Leben verbannt, während der gemeinsame Nenner von Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus immer das Antiklerikale gewesen sei. George W. Bushs Widersacher hätten ihn mit besonderer Inbrunst dafür gehasst, "weil er angeblich wähnte, in der Durchsetzung seiner Kriegspolitik einem göttlichen Befehl zu folgen".

In Amerika habe man – im Gegensatz zu Westeuropa – Revolution durchführen können, ohne Kirchen niederzubrennen und Priester zu ermorden. Joffe meint, dass die frühe Trennung von Kirche und Staat die Rolle der Religion in den USA gestärkt habe: "Wo der Glaube der Freund der Freiheit war, brauchten deren Verfechter den Glauben nicht als Feind der Aufklärung zu bekämpfen." In den USA habe es nie ein Kirchenmonopol gegeben. Weil auch der Kongress keine wie auch immer gearteten Gesetze über Religion verabschieden soll, sei Amerika zum ersten freien Markt der Religionen geworden: "Hegte man keine Sympathien für das puritanische Boston, dann ging man einfach ins weltliche Philadelphia oder ins katholische Maryland."

Hinzu komme das amerikanische Phänomen, dass deren Bevölkerung oft gezwungen sei ohne den Staat auszukommen. Dies öffne auch in Bezug auf die Religion alle Möglichkeiten: von einer "Do-it-yourself-Frömmigkeit" und einer "angebotsorientierten Religion" aller Gemeinden mit einer lesbischen Rabbinerin bis hin zur Mega-Kirche. In Europa enthalte die Verfassung noch nicht einmal einen Gottesbezug.

Beim in Europa existierenden Modell der Pfarrkirche sei es schwierig, religiöse Neugründungen zu etablieren. Auch der moderne Wohlfahrtsstaat in Europa sei ein ungewollter Konkurrent der Kirche geworden. Aufgaben die früher von Nonnen und Priestern geleistet wurden, übernähmen heute staatlich angestellte Vollzeitkräfte: "Der Staat verheiratet und beerdigt, dazwischen heilt, ernährt, unterrichtet und beherbergt er. Wohltätigkeit hängst nicht vom Glauben ab, sondern entspringt einem Rechtsanspruch."

Zu viel Hype, zu wenig Innerlichkeit

In Amerika gehörten fast zwei Drittel aller Amerikaner einer Kirche oder Synagoge an. In Europa gebe es ein großes Misstrauen gegen das evangelikale Christentum in Amerika – zuviel Hype, zu wenig Innerlichkeit: "Nirgendwo sonst befeuert die Religion eine vollkommen säkulare, auf Eigenverantwortlichkeit und Erlösung im Hier und Jetzt ausgerichtete Ideologie. Nennen wir sie ‚Amerikanismus’", bilanziert Joffe. Er kommt zu dem Fazit: "In Europa sind Religion und Freiheit zwar keine Gegner mehr, aber richtige Freunde auch nicht. Gott, diese einst übermächtige Gestalt, hat seine alte Stellung im öffentlichen Raum verloren." Amerika und Europa hätten den gleichen Weg in die Moderne beschritten, seien aber an verschiedenen Orten angekommen. (pro)

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