Große Traditionen, so scheint es, beginnen mit einer tiefen Verzweiflung: Luther gelobte angesichts eines Sturms ins Kloster zu gehen, wenn Gott ihn nur retten würde. Als Mönch und Theologe fand er heraus, dass es mit der katholischen Kirche im Argen liegt und zettelte die Reformation an. Kaum mehr als ein Jahrhundert später, A. D. 1633, sah sich ein bayerisches Dorf der Pest ausgesetzt. In ihrer Not gelobten die Bewohner, für immer und ewig die Kreuzigung und Auferstehung Jesu in einem Schauspiel nachzuerzählen, wenn Gott sie nur verschonen würde.
Besagtes Dorf heißt Oberammergau, und seine Geschichte erzählt, wie ernst es mit dem Versprechen war: Seit knapp 400 Jahren spielen die Dorfbewohner alle zehn Jahre die zentrale Geschichte des Christentums nach. Inzwischen ist aus der Aufführung ein Spektakel geworden, das Zuschauer aus aller Welt in das oberbayerische Dorf mit seinen 5.200 Einwohnern lockt.
Dass hier der kommerzielle Faktor eine Rolle spielt, und wohl auch etwas Kitsch, liegt auf der Hand. Umso besser, dass der Film von Regisseur Jörg Adolph konsequent bei seiner größten Stärke bleibt: Er ist frei von eigenen Effekten und Kommentaren, versucht gar nicht erst, aus dem Geschehen mehr zu machen, als es ohnehin schon ist. Die Kamera ist stiller Beobachter und Zuhörer bei den Arbeiten hinter den Kulissen, bietet schön photographierte Bilder und viel bayerischen Akzent.
"Letztendlich ist es das longest running theatre piece in history, oder?"
Trotz seiner 144 Minuten mutet der Film an keiner Stelle langweilig an. Der Zuschauer ist dabei, wenn organisatorische Details zu klären sind. Er erlebt mit, wie am Libretto gefeilt und an der Kulisse gesägt wird. Eine Darstellerin wird ermuntert, bei ihrem bayerischen Akzent zu bleiben, während sich die Organisatoren fragen, warum der Ticketverkauf so schleppend verläuft. Liegt es an der Wirtschaftskrise in den USA? Oder hat das Stück seinen Bekanntheitsgrad dort verloren? "Letztendlich ist es das longest running theatre piece in history, oder?", vergewissert sich ein Mitarbeiter vom Marketing.
Fest steht für die Macher: Die Oberammergauer Spiele sind ein Mythos, und jeder Mythos muss neu aufgefrischt werden. Zu diesem Mythos gehört auch eine unerschütterliche Tradition: Als Schauspieler darf nur mitwirken, wer in Oberammergau geboren ist oder bereits 20 Jahre dort lebt. Zu Beginn des Films, 16 Monate vor der Aufführung im Jahr 2010, werden alle beteiligten Männer des Dorfes angewiesen, Bart und Haare wachsen zu lassen. In dieser Zeit, so heißt es, wachse er 20 Zentimeter.
Leidenschaftliche Debatten
Die Kamera bleibt bei fast allen Diskussionen und Anordnungen nahe am Mann, und das heißt besonders am Spielleiter und gebürtigen Oberammergauer Christian Stückl. Mit seiner leidenschaftlichen Art schafft er es nicht nur, die Schauspieler zu begeistern, sondern auch die Zuschauer des Films für das Stück einzunehmen. Es ist phantastisch anzusehen, wenn er mit Enthusiasmus zeigt, wie Szenen gespielt werden sollen. Dieselbe Leidenschaft ist es, die ihn manchmal in Konflikt mit den Bürokraten und Politikern des Dorfes bringt.
Am Ende ist er es auch, der etwas Nachdenklichkeit in die Sache bringt: Obwohl Geld eine Rolle spiele, gehe es in erster Linie doch um die erzählte Geschichte, ermahnt er die Oberammergauer. Gespräche über "der Mensch vor Gott" und jüdisch-christliche Diskussionen um die Frage, wer Schuld hat an Jesu Tod, sind auch Teil der Dokumentation. In Erinnerung bleibt aber die Feststellung des Spielleiters am Ende des Films, mit der katholischen Kirche liege es im Argen. Ob Oberammergau ein kleiner Luther erstanden ist? (pro)
Jörg Adolph: "Die große Passion. Hinter den Kulissen von Oberammergau", Verleih: if… cinema, Deutschland 2008-2011. Kinostart: 17. November 2011