Religionen lösen sich derzeit immer
mehr von der Kultur ab, das führt zu Fundamentalismus. Das sagt der
Islamexperte Olivier Roy in einem Interview mit der österreichischen
Tageszeitung "Die Presse". Die Burka sei nur eine
Randerscheinung des Islam. Ähnlich wie die Kirche derzeit durch die
"Brille der Pädophilie" wahrgenommen werde, werde der
Islam "durch die Brille der Burka" wahrgenommen.
Von PRO
Foto: Juanmonino/istock
Roy ist gegen ein Totalverbot der Burka, weil sie nur eine Randerscheinung sei, erklärt der französische Politikwissenschaftler. Außerdem sei ein Verbot mit dem Grundsatz der individuellen Freiheit unvereinbar. "Aber man könnte im Interesse der Sicherheit beträchtliche Verbote aussprechen, in Banken, Spitälern, Bahnhöfen, Schulen", so Roy. Auch Minarette beträfen keine religiöse Verpflichtung im Islam. "Ihr Verbot berührt nicht die Religionsfreiheit. Minarette verbieten heißt im Übrigen anerkennen, dass die Moscheen da sind."
Er widerspreche der Feministin Alice Schwarzer, wenn sie sage, der Ganzkörperschleier Burka bedeute einen "endgültigen Sieg des politisierten Islam". Dies sei in seinen Augen "total absurd". "Der politische Islam hat nie die Burka gefordert." Roy weiter: "Die Burka, das ist der Rückzug auf die individuelle Gläubigkeit, die Sekte, also genau das Gegenteil eines politischen Islam." Die meisten Muslime seien gar nicht für die Burka, so Roy, "Auf der anderen Seite wollen die Muslime aber kein Gesetz dagegen, weil sie das als Stigmatisierung der Muslime sehen." Auch die Kirche argumentiere ähnlich beim Thema Pädophilie: "Sie fragt, warum handeln 90 Prozent der Artikel über die Kirche gerade davon? Die Kirche wird jetzt durch die Brille der Pädophilie gesehen, im Islam ist die Burka die Brille."
Aus "entwurzelten Religionen" werden Fundamentalisten
In seinem neuen Buch "Heilige Einfalt", das im April im Siedler Verlag erschienen ist, beschäftigt sich Roy mit den aktuellen Religionsströmungen. "Religionen jeder Couleur haben weltweit wachsenden Zulauf", stellt er darin fest. Dabei habe die Globalisierung eine Trennung zwischen Religion, Nation und Kultur bewirkt. Jeder bastele sich heute seinen eigenen Glauben. Weltweit am schnellsten wachse die Pfingst-Bewegung.
Roy schreibt, religiöse Fundamentalisten seien Teil einer von der Kultur "entwurzelten Religion". "In einer Kultur sind Normen und Symbole nicht von der Religion abgetrennt. So war es in Europa bis zum 18. Jahrhundert, so ist es im Islam bis heute." So verwende man etwa in einer solchen Gesellschaft die religiösen Grüße, auch wenn man nicht gläubig sei. Roy: "Man braucht nicht den Glauben, um Weihnachten zu feiern. Nicht alle fasten im Ramadan, aber alle tun so als ob." Religionen würden ohne Kultur fundamentalistisch, ist der Islamforscher überzeugt, und Fundamentalismus sieht er als eine Folge der Säkularisierung.
"Keine politische Gruppe unterstützt Bin Laden"
Die Scharia sei zwar fundamentalistisch und in vielen Kulturen verankert, das bedeute jedoch nicht, dass sie immer praktiziert werde. In der ägyptischen Verfassung sei die Scharia als Quelle des Gesetzes verankert, dennoch werde sie nicht so angewendet. "Keine einzige politische Gruppierung in den arabischen Ländern unterstützt Bin Laden. Seine Basis sind die globalisierten Moslems. Bin Laden ist kein Traditionalist, die Scharia interessiert ihn gar nicht."
Auch in allen anderen Religionen sieht Roy einen Trend der Ablösung der Religion von der Kultur. Im Christentum macht er eine weltweite Ausbreitung der Evangelikalen aus. Die Journalistin der "Presse" fragt: "Abgesehen von der Politik – was haben diese christlichen Bewegungen mit den islamischen gemeinsam?", und Roy antwortet: "Sie verweigern den Kompromiss, man ist drin oder draußen. Die jeweils bei den Angehörigen der Religion dominante Kultur ist für sie heidnisch – die Salafisten wenden sich ja zuallererst gegen die muslimische Kultur. Es genügt nicht, nominell gläubig zu sein, man befindet sich also nicht mehr in einer Kirche, sondern einer Glaubensgemeinschaft, einer Sekte. Verloren hat man die Kontinuität von Kirche und Gesellschaft inklusive den Nichtgläubigen. Das erfasst auch die katholische Kirche, sie will zwar eine Kontinuität erhalten, aber in der Pädophilie-Debatte geschieht das Gegenteil. Die Kirche fühlt sich belagert, sie kritisiert, ‚die Gesellschaft‘ sei gegen sie."
Roy sieht den Versuch von säkularen Staaten, mit diesen "entwurzelten Religionen" umzugehen, darin, dass sie etwa religiöse Symbole wie Kreuz und Kopftuch oder sogar Burka gleichsetzen. Das sei falsch, so der Wissenschaftler. "Das ist ein Phänomen unserer Zeit, dass man versucht, die Religionen unter einem Modell zu denken – Imam, Rabbiner, Pastor sind dasselbe, Tempel, Kirche, Moschee sind dasselbe. Der Haken ist, es stimmt nicht! Eine Moschee ist eher wie ein protestantisches Gotteshaus als eine katholische Kirche, die Burka ist ein Gewand und eine Innovation, sie ist nicht in der Tradition verwurzelt, sie wird nur von Frauen getragen und so weiter."
Stattdessen müssten die Staaten zwei Prinzipien beachten: "Religionsfreiheit und öffentliche Ordnung. Die können einander widersprechen, dann muss der Oberste Gerichtshof eine Wahl treffen. Aber das hat man immer schon so gemacht. Das Glockenläuten zum Beispiel ist in Frankreich kein absolutes Recht, es wurde regelmäßig eingeschränkt, in puncto Dezibel, Dauer, bis hin zum Verbot. Neue Kirchen haben normalerweise gar kein Recht darauf. Neu ist nur: Für den Islam muss man in einer Generation Lösungen finden, für die andere Religionen Jahrhunderte Zeit hatten. Aber man findet sie!" (pro)
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