Auch in Deutschland leben Millionen Kinder in Familien, in denen es nicht nur am nötigen Geld für ein gesundes und einigermaßen zufriedenes Leben fehlt, sondern mehr noch an emotionaler Zuwendung durch Eltern oder Angehörige. Meist hängen beide Faktoren zusammen, zwingend ist das nicht. Auch in den reichsten Familien kann Überfluss zu Gleichgültigkeit führen – gerade von Eltern gegenüber ihren Kindern. Doch in Familien, in denen beides fehlt, das nötige Einkommen und die familiäre Geborgenheit, leiden Kinder gleich doppelt. Sie werden nicht gesund ernährt und wachsen in einer Umgebung auf, die von Kälte, Zorn, Gleichgültigkeit und im schlimmsten Fall von Hass und Verwahrlosung geprägt ist.
Dem Elend in hunderttausenden Familien in Deutschland sehen viele Bürger einfach nur zu, schaudern ab und an, wenn Medien über ein Kind berichten, das qualvoll verhungert oder verdurstet ist, weil die Eltern ihm monatelang keine Nahrung gaben. Das ist die Spitze des Eisbergs an Kindesmisshandlung, der unter der Oberfläche aus Liebesentzug, Gleichgültigkeit und seelischer wie körperlicher Brutalität besteht. Natürlich leiden Kinder an derartigen Misshandlungen mehr als Erwachsene, die sich im Laufe ihres Lebens an einiges gewöhnt haben.
"Archen" in Großstädten
Pastor Bernd Siggelkow wollte den von überwiegender Gleichgültigkeit in der Bevölkerung begleiteten Katastrophen in vielen Familien nicht länger zusehen, 1995 gründete er in Berlin-Hellersdorf die "Arche" als Anlaufstelle für Hunderte Kinder, die von ihren Eltern alles erwarten aber nichts bekommen. In der "Arche" sollen sie versorgt werden, mit Essen, Aufmerksamkeit und Liebe. 2006 eröffnete in Hamburg-Jenfeld ebenfalls eine "Arche", außerdem in München. 2008 folgte eine "Arche" in Potsdam, seit März dieses Jahres auch in Düsseldorf. Erst in diesen Wochen verkündete der Verein, dass der Automobilkonzern Porsche der "Arche" ein prominentes Gebäude in Leipzig zur Verfügung stellen will.
Für seine Arbeit erhalten Siggelkow und seine Mitarbeiter viel Lob und prominente Unterstützung, etwa durch Fernsehmoderator Günther Jauch, der die "Arche" in Berlin gemeinsam mit seiner Frau besucht hat. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in einem Zeitungsinterview über die Einrichtungen: "Die ‚Arche‘ ist ein hervorragendes Beispiel für tätige Nächstenliebe. Sie hilft Kindern, Jugendlichen und auch Eltern. Doch die Kinder finden dort viel mehr: Pfarrer Siggelkow und seine Mitarbeiter geben ihnen menschliche Wärme und Zuwendung. Das brauchen sie manchmal mehr als alles andere."
"Was sich unsere Kinder wünschen"
Trotz all seinem Einsatz und der Anerkennung hat Siggelkow ganz offensichtlich nie den Blick für die alltäglichen Nöte "seiner" Kinder verloren. Er will etwas bewegen, nicht nur im Leben der "Arche"-Kinder, sondern auch in der Öffentlichkeit. Sicher aus diesem Grund schreibt er – gemeinsam mit "Arche"-Pressesprecher Wolfgang Büscher – in Büchern über das Elend, unter dem Kinder vielfach zu leiden haben. Nach "Deutschlands vergessene Kinder" und "Deutschlands sexuelle Tragödie" hat der Gründer der "Arche" jetzt sein drittes Buch veröffentlicht, in dem er sich der Lebenswelt von Kindern in diesem Land widmet: "Deutschlands große Chance". Darin schildert er Geschichten von Kindern aus der "Arche", die Kernforderungen an Politik, Schulen, Kirche und Eltern untermauern. "Was sich unsere Kinder wünschen und warum wir sie unbedingt ernst nehmen müssen", lautet der Untertitel.
Die Forderungen Siggelkows sind dabei überraschend konkret. Er kritisiert deutlich die Ansicht der Politik, nach der Kinder mit einem Hartz-IV-Satz von 211 Euro eine vollwertige Ernährung erhalten können. "Geld für Bücher, Bildung und die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben steht ihnen sowieso nicht zur Verfügung. Sie werden praktisch vom ersten Tag ihres Lebens an aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt", schreibt der "Arche"-Gründer. Dieser Zustand aber verletze die Rechte der Kinder, die in der UN-Konvention für Kinderrechte festgeschrieben sind: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Bildung und Gesundheit und Ernährung. Notwendig sei daher ein "Angebot an kostenlosen Kursen für sozial benachteiligte Kinder und ihre Eltern", in denen Tipps für eine gesunde Ernährung oder zum Thema "Kindererziehung" vermittelt werden, so Siggelkow.
Außerdem plädiert er für Kita-Gutscheine, die bundesweit für Eltern ausgestellt werden sollten, die sich die Gebühren für Kindergärten nicht leisten können. Kultusministerien müssten zudem eine "Grundausstattung" für Bildung – Schulbücher, Arbeitsmaterialien, Stifte – für bedürftige Kinder kostenlos anbieten, das gleiche gelte für das Schulessen.
Praktische Schritte
Auch Kirchen und Gemeinden werden von Siggelkow zur praktischen Unterstützung für arme Familien und notleidende Kinder aufgefordert: "Machen wir doch einfach ein paar Mal pro Woche die Türen unserer Kirchen und Gemeinden auf, spielen mit den Kids Kicker oder Tischtennis, essen zusammen, helfen bei den Hausaufgaben oder hören ihnen einfach nur zu – das ist die Zukunft der Kirche!"
Und die Eltern? Siggelkow nennt folgende Forderung an Mütter und Väter die "Allerwichtigste": Eltern müssen ihren Kindern Zeit und Aufmerksamkeit schenken. "Wenn man sich für ein Kind entschieden hat, dann sollte man ihm zeigen, dass es gewollt ist. Das heißt auch, dass die Arbeit ihm nicht ständig vorgezogen wird. Kinder brauchen Eltern, die Zeit mit ihnen verbringen, sie in ihrer schulischen Laufbahn begleiteten, sich für ihre Sorgen interessieren, sich mit über ihre Erfolge freuen, sie bei Misserfolgen trösten und besondere Erlebnisse mit ihnen teilen."
All diese Forderungen klingen banal, alltäglich. Doch genau darin liegt ja die Stärke dieses Buches – das konkrete Maßnahmen vorschlägt, verlangt und einfordert, die Kindern eine Zukunft sichern. Und damit unserer Gesellschaft.