Wenn Heilung ausbleibt

Normalerweise folgen Bekehrungsgeschichten einem ähnlichen Muster: Eine Person leidet unter einem großen Problem, sie bekehrt sich, alles wird gut. Der Seelsorger Reinhard Deichgräber hat ein ungewöhnliches Büchlein geschrieben, das vom Scheitern handelt und nicht vom Sieg. Dennoch ist es ermutigend. Eine Rezension von Jörn Schumacher
Von Jörn Schumacher
Das Büchlein "Nicht umsonst gelebt", erschienen im Brunnen-Verlag, wirft einen Blick auf all jene, die trotz ihres Glaubens scheitern

Von erfolgreichen Heilungen hört man immer wieder. Ein Mensch erkrankt unheilbar, lässt für sich beten oder geht zur Therapie und wie durch ein Wunder wird er geheilt. Wer selbst betroffen ist und so etwas liest, fühlt sich bestärkt. Weiter an Gott festhalten, weiter beten, weiter hoffen, lautet dann die Devise. Doch was ist mit all jenen, die trotz Gebet keine Heilung erfahren? Die viele Heilungsgeschichten hören, aber selbst verstrickt bleiben in Süchten, Ängsten und Krankheiten?
Das Buch „Nicht umsonst gelebt. Eine Stimme für die Gescheiterten“ von Reinhard Deichgräber wirft einen Blick auf all jene, die nicht am Ende ihres Lebens glücklich und zufrieden sind. Deichgräber macht anhand der Lebensgeschichte eines Mannes namens Martin deutlich, dass auch Christen scheitern können im Kampf gegen Süchte. Martin litt zeit seines Lebens an einer Essstörung: „Solange Martin zurückdenken kann, war das Essen (oder soll ich sagen: das Fressen?) seine Lust und seine Sucht.“
Martin wurde nie davon geheilt. Er starb im Alter von 48 Jahren. Und weil er nie geheilt wurde, schreibt niemand seine Geschichte auf, schreibt Deichgräber. Wahrscheinlich weil sie nicht als mutmachendes Beispiel in ein frommes Andachtsbuch passt. Deichgräber behauptet: Martins Geschichte kann anderen Menschen aber sehr wohl etwas sagen.

Kann ein suchtkranker Mensch gläubig sein?

Auch Paulus sprach von einem „Pfahl im Fleisch“. Er betete deswegen zu Gott, doch der nahm ihm dieses Leiden – was immer es war – nicht weg. Deichgräber beschreibt den Grund so: „Paulus soll es verlernen, wegen der großen Offenbarungen, die Gott ihm hat zuteilwerden lassen, überheblich zu sein. Der Kampf gegen diese Versuchung ist ein lebenslanges Ringen.“
Martin sei gläubig gewesen, und sein Glaube sei ernsthaft gewesen, schreibt Deichgräber. „Nicht ein billiges Fürwahrhalten oder ein totes Festhalten an frommen Traditionen und Gewohnheiten.“ Es stellt sich die Frage: Kann ein suchtkranker Mensch gläubig sein? Der Autor ist überzeugt: Auch wenn ein Mensch fest im Glauben steht, kann es sein, dass er ein Leben lang nicht über eine gewisse Schwierigkeit in seinem Leben hinwegkommt. Niemand sollte solch einem Menschen jedoch dessen Glauben absprechen. Auch Fromme begegnen Menschen mit Suchtleiden oft mit Vorurteilen. Anstatt an ihrem Leid Anteil zu haben, verweigern sie ihnen ihre Liebe. Süchte gehören eben nicht in eine Gemeinde, laute das Urteil.
Deichgräber beschreibt die Realität nüchtern: „Die Zahl derer, die irgendwann aufatmen können, weil ihr Kampf gegen die Sucht zu einem definitiven Erfolg geführt hat, ist erschütternd klein.“
Und diejenigen, die es nie geschafft haben, seien nicht etwa allesamt Faulpelze, die sich nie um einen Sieg bemüht hätten. „Nein, unter ihnen findet man immer wieder tapfere Kämpfer.“ Er weist Geschichten von Wunderheilungen nicht zurück, sondern betont, dass er sie durchaus für möglich hält, auch heute noch, wie damals in der Bibel. Doch sei Heilung eben nie garantiert.
Menschen, die unter Süchten leiden, ermutigt der Autor: „Versteck dich nicht! Geh unter die Leute! Sprich mit ihnen! Suche dir Freunde und Freundinnen! Tu, was du kannst!“ Und Menschen im Umkreis des Opfers ermahnt er, Anteil zu nehmen, sich um sie kümmern, das Leid mit ihnen zu teilen, anstatt sie zu verurteilen. Seelsorgern und Therapeuten gibt er den Rat: „Du sollst deinen Patienten nicht entmutigen!“ Am besten sei es, dem, der Rat sucht, ein Stück Leidensgesellschaft zu leisten.
Das 64 Seiten dünne Büchlein hält keine Standard-Antworten parat und ist gerade dadurch lesenswert. Der Autor, der viele Jahre als Dozent am Missionsseminar in Hermannsburg und als Seelsorger tätig war, schöpft aus einem tiefen Schatz an Erfahrungen. So wie die Probleme, die Menschen haben können, komplex und immer wieder individuell sind, so sind es auch die Hilfen, die man einem solchen Menschen anbieten kann. Gott weiß das. Und so lautet auch ein zentraler Bibelvers des Buches: „Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Aber Gott sieht das Herz an.“ (1. Samuel 16,7) (pro)

Reinhard Deichgräber: „Nicht umsonst gelebt. Eine Stimme für die Gescheiterten“. Brunnen-Verlag, Mai 2014, 64 Seiten, 4,95 Euro, ISBN: 978-3-7655-5464-3

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