Das größte Potenzial sieht Kamann in der Vielstimmigkeit der Protestanten und in ihrer „Freiheit des Geistes“. Kritische Denkprozesse seien beispielsweise in der Besinnung auf die Lehren Luthers von großer Bedeutung. Allein der Anspruch des Reformators „Sola scriptura“ („allein die Schrift“) stelle den Gläubigen vor einen riesigen biblischen Kosmos, den es zu durchdringen gelte. Ähnlich verhalte es sich mit den restlichen drei Forderungen („sola gratia“, allein durch die Gnade“; „sola fide „, allein durch den Glauben“ und „solus Christus“, allein Jesus Christus“). Jede einzelne Erklärung fordere dazu heraus, sich mit ihren Konsequenzen zu beschäftigen. Dies, so Kamann, sei ein Prozess, der den Glauben bereichere.
Kritische Distanz als Merkmal des Protestantismus
Ein weiterer Pluspunkt der evangelischen Kirche sei das protestantische Gemeindeverständnis. Kamann versucht dies exemplarisch an der Dresdner Frauenkirche zu verdeutlichen. Die Architektur der Kirche stelle das „Kirchenvolk“ in den Mittelpunkt. „Seine Lieder und Gebete sollen sich in der Kuppel wie in einem Schalltrichter bündeln“, schreibt Kamann. Im Gesang erlebe sich die Gemeinde als frohe Gemeinschaft. Und so ist der Protestantismus für Kamann eine „singende Bewegung“. Positiv beurteilt der Journalist auch eine gewisse kritische Distanz gegenüber dem altehrwürdigen Liedgut. Laut Kamann ist der Protestantismus eine „freudige Bewegung, die das Alte distanziert betrachtet und doch leidenschaftlich mit vollzieht.“
Diese Distanz komme auch im protestantischen Bibelverständnis zum Tragen, sagt Kamann. Denn gerade weil die Aufklärungsvernunft voller Bestandteil des Protestantismus sei, könnten die evangelischen Christen der Wissenschaft treu bleiben – und doch beherzt das erste Buch Mose lesen. Vorbehalte würden nicht „texttreu zur Ruhe gesetzt“, sondern als bereichernd empfunden.
Kamann ist sich sicher: „Wenn die Protestanten das Reformationsfest zum Anlass nehmen, sich vom Allerweltsgerede abzuwenden und ihren freien Geist, ihr bewegtes Gemüt der Schrift und dem göttlichen Heilswerk zuzuwenden, dann brauchen sie sich vor den Katholiken nicht zu schämen. Vielmehr wird ihr kirchliches Leben so intensiv, geistreich, ergreifend und auch schön, dass sie sich um Erkennbarkeit nicht sorgen müssen.“