Wann ist eine Gesellschaft „post-christlich“?

Gibt es nun eine "religiöse Wende", ein Zuwachs am Interesse am Christentum? Oder wächst in den USA derzeit die Zahl derjenigen, die sich als Agnostiker oder Atheisten bezeichnen? Der amerikanische Journalist Jon Meacham analysiert im Magazin "Newsweek" die Frage, ob die amerikanische Gesellschaft "post-christlich" sei.
Von PRO

Meacham überschreibt seinen Artikel, der in der „Newsweek“-Ausgabe, die am 13. April erscheint und vorab im Internet veröffentlicht wurde, mit den Worten: „Das Ende des christlichen Amerika“. In seinem Text, der rund sechs ausgedruckte Din A-4-Seiten umfasst, nimmt er diese provokative These freilich zugleich etwas zurück.

Auslöser für seine umfassende Analyse war die aktuelle Studie „American Religious Identification Survey“ (ARIS). Darin hieß es, dass die Zahl der Menschen, die sich selbst als Christen bezeichnen, in den USA in den letzten zwei Jahrzehnten um zehn Prozent gesunken sei. Im Jahr 1990 seien es 86 Prozent, nun 76 Prozent. Die Zahl der Menschen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen, hat sich seit 1990 hingegen fast verdoppelt. Ihr Anteil in der amerikanischen Bevölkerung stieg von 8 auf 15 Prozent. Juden machen der Studie zufolge 1,2 Prozent der amerikanischen Bevölkerung aus, Moslems 0,6 Prozent.

Basierend auf diesem Umfrageergebnis geht Meacham der These nach, ob Amerika sich nun in einer „post-christlichen“ Epoche befinde. Wenn ja, sei das gut so, denn schon Jesus habe eher gelehrt, seine Anhänger sollten sich aus der Politik heraushalten und sich auf geistliche Themen besinnen.

„Amerika ist keine post-christliche Gesellschaft“

Meacham findet einige Zitate, die seine These stützen. So schrieb R. Albert Mohler Jr., Präsident des Southern Baptist Theological Seminary, auf seiner Webseite www.albertmohler.com von einem „Kulturwandel“: „Der so genannte jüdisch-christliche Konsens des vergangenen Jahrtausends hat Platz gemacht für eine postmoderne, post-christliche, post-westliche Kulturkrise, die das Herz unserer Kultur bedroht.“ Meacham: „Das bedeutet nicht, dass der christliche Gott tot sei, aber dass er eine geringere Kraft in der amerikanischen Politik und Kultur ist als jemals zuvor in der Geschichte.“ Liberale hätten bereits befürchtet, dass eine evangelikale Theokratie entstehen könnte, doch die Zahl der überzeugten Christen nehme ab.

Eine andere Studie des „Pew Forum“ kam zu dem Ergebnis, dass sich die Zahl der Menschen, die zu keiner Religion gehören, in den vergangenen Jahren auf 16 Prozent erhöht habe. Die Anzahl der Menschen, die sich selbst als Atheisten oder Agnostiker bezeichnen, wuchs zwischen 1990 und 2009 von 1 Million auf rund 3,6 Millionen.

„Der Glaube des wiedergeborenen Christen Jimmy Carter machte das evangelikale Christentum von 1976 zum Mainstream“, schreibt Meacham. Die USA blieben eine Nation, die wesentlich durch religiöse Ansichten geprägt sei. Doch Politik und Kultur würden weniger durch Christen beeinflusst als noch etwa vor fünf Jahren. „Ich finde, das ist eine gute Sache“, so der Journalist. Das sei gut „für unsere politische Kultur“, aber auch für das Christentum. Denn viele Christen entdeckten die Vorteile einer Teilung zwischen Kirche und Staat wieder neu. Dies habe Roger Williams, Vater des amerikanischen Baptismus, Vorkämpfer der Religionsfreiheit und früher Vertreter der Trennung von Kirche und Staat, als Hafen für religiös Verfolgte, als „Garten für die Kirche“ aus der „Wildnis der Welt“ bezeichnet.

Amerikas Stärke habe nie in einem speziellen Glauben gelegen, sondern in der Freiheit, Religion nach eigenem Willen auszuüben. „Seien wir hier deutlich: Auch wenn der Anteil der Christen sinken mag, sind Gerüchte, nach denen das Christentum stirbt, völlig übertrieben. Weniger christlich zu sein bedeutet nicht, dass Amerika post-christlich ist. Ein Drittel der Amerikaner sagt, dass es wiedergeboren ist.“ Auch gebe es einen Niedergang des politisch moderateren bis liberalen Protestantismus.

Die Autoren der ARIS-Studie schreiben: „Diese Trends legen nahe, dass es eine Bewegung hin zu mehr konservativen Glaubensauffassungen und zu ‚evangelikalen‘ Ansichten unter Christen gibt. Mit der Zuwanderung durch Südamerikaner wachse zudem der Anteil an römisch-katholischen Gläubigen.

Eine aktuelle Umfrage von „Newsweek“ ergab, dass weniger Menschen die USA als „christliche Nation“ sehen als dies noch zu Zeiten von US-Präsident George W. Bush der Fall war. Im Jahr 2008 sahen 69 Prozent die USA als eine „christliche Nation“ an, 2009 waren es 62 Prozent. Zwei Drittel der US-Bevölkerung (68 Prozent) finden zudem, dass Religionen an Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft verlören. Hingegen meinen 19 Prozent, dass der Einfluss der Religion sogar wachse. Vieles deute darauf hin, dass die Menschen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen, eher solche seien, die sich selbst als „spirituell“ denn als „religiös“ bezeichnen würden. Die „Newsweek“-Umfrage habe tatsächlich gezeigt, dass die Zahl dieser Menschen seit 2005 von 24 Prozent auf 30 Prozent zugenommen habe.

„Glaube ist innerer menschlicher Impuls“

Meacham berichtet, dass der Begriff „post-christlich“ bereits mehrfach angewendet wurde, um die amerikanische Gesellschaft zu beschreiben. Im Jahr 1886 etwa beschrieb George Eliot im „Atlantic Monthly“ Amerika als „post-christlich“ und benutzt das Wort als Synonym für atheistisch oder agnostisch. Der Begriff wurde auch Mitte der 60er Jahre populär, als Anhänger des Spruches von Friedrich Nietzsche „Gott ist tot“ aufkamen.

Für den Baptisten Mohler steht fest: „Die Moral der christlichen Lehre hat einen nicht zu berechnenden Einfluss auf die westliche Zivilisation. Wenn sich diese moralische Lehre in ein kulturelles Bewusstsein verwandelt, nimmt eine säkularisierte Moral ihren Platz ein. Sollte sich ein großer Teil der Bevölkerung vom Christentum abkehren, verändert sich die moralische Landschaft notwendigerweise. Im besseren Teil des 20. Jahrhunderts führten die Nationen Westeuropas in die Loslösung von Verbindlichkeiten des Christentums. Christliche Moralprinzipien bereiteten den Weg für einen schwächer werdenden Einfluss eines christlichen Andenkens. Mittlerweile ist sogar das christliche Andenken im Leben von Millionen abwesend.“

Meacham urteilt: „Amerika ist also keine post-religiöse Gesellschaft — und das kann sie auch nicht sein, so lange es Menschen dort gibt, denn der Glaube ist ein innerer menschlicher Impuls. Der Glaube an eine Ordnung oder eine Realität jenseits von Zeit und Raum ist uralt und immer andauernd.“ Schon Homer habe geschrieben: „Alle Menschen brauchen die Götter.“ Die Frage sei jedoch, in welchem Ausmaß diese „Götter“ Fragen von Politik und Kultur beeinflussen sollten.

Die fundamentalen Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft seien die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung, „nicht die hebräische Bibel und das Neue Testament (auch wenn es unbezweifelbar Verbindungen dazwischen gibt)“, so der „Newsweek“-Autor.

„Kein Land ist wirklich christlich. Nur Menschen.“

Religion war schon immer ein wichtiger Faktor in der amerikanischen Gesellschaft, von Anbeginn an. Ob Anglikaner oder Puritaner, viele glaubten an die Gründung eines „Neuen Jerusalems“. In der Mitte des 19. Jahrhunderts sagte der Evangelist Charles Grandison Finney, Aufgabe der Kirche sei es, die Welt zu reformieren und die Sünde zu bekämpfen. Christen seien „verpflichtet, ihren Einfluss zu nutzen, um sicherzustellen, dass die Gesetze in Einklang mit dem Gesetz Gottes stehen“.

Der Kolumnist Cal Thomas habe einmal geschrieben: „Kein Land kann wirklich ‚christlich‘ sein. Das können nur Menschen. Gott steht über allen Nationen, und der Prophet Jesaja sagte, ‚Alle Länder sind für ihn ein Tropfen in einem Topf, weniger als nichts‘.“

Und auch Jesus habe gesagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde“. Meacham betont: „Der Großteil der Lehren der Evangelien und vom Rest des Neuen Testamentes legt nahe, dass irdische Macht vorrübergehend und verderblich ist und dass sich die Nachfolger Jesu mehr um geistliche denn um politische Themen kümmern sollten.“ Auch der Apostel Paulus habe gelehrt: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich“.

Mohler vom Southern Baptist Theological Seminary stützt Meachams Aussage, wenn er schreibt: „In der Welt, aber nicht von ihr zu sein ist unsere Verpflichtung. Die Kirche ist die ewige Präsenz in einer gefallenen, vorläufigen Welt – aber wir sollen Einfluss haben. Die Bergpredigt etwa sagt uns, was wir tun sollen, aber sie bringt kein politisches Handbuch mit sich.“ Und die drei evangelikalen Christen Mark A. Noll, Nathan O. Hatch und George M. Marsden hätten in dem Buch „The Search for Christian America“ geschrieben: „Wir haben die wichtige Verpflichtung, zu tun, was immer wir können, auch durch die Verwendung politischer Mittel, um unseren Nachbarn zu helfen – indem wir gerechte Gesetze unterstützen, gute Ordnungen, Frieden, Erziehung und Gelegenheiten.“ (PRO)

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