Wahrheit und Klarheit

An ihren Pfarrern und Pfarrerinnen entscheidet sich die Zukunft der evangelischen Kirche. So lautet das Fazit des Theologen Friedrich Wilhelm Graf nach einer kritischen und 200 Seiten langen Betrachtung seiner Kirche, die er 
in seinem Buch "Kirchendämmerung: Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen" dokumentiert.
Von PRO

Graf verdeutlicht, dass noch immer 60 Prozent der Bevölkerung den beiden christlichen Volkskirchen angehörten – mit deutlichen Unterschieden zwischen Ost und West. Zwar sei aktuell von einer Austrittswelle die Rede, doch die Beschäftigtenzahlen und die ökonomischen Ressourcen der Kirchen seien seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland aggressiv und mit hohem Tempo expandiert. Die Kirche habe in dieser Zeit viele neue Themenfelder besetzt und vor allem die politische Lobbyarbeit vorangetrieben.


Kirchliche Verkündigung nur noch wenig verständlich



Warum die Kirchen trotzdem das Vertrauen verspielten, macht Graf aus der "individuellen Sicht eines liberalen protestantischen Theologen" an diversen Untugenden fest. Antworten dafür findet er häufig in der Kirchengeschichte. Früher hätten Theologen Erzählungen für das Volk verfasst, um ihnen so die Grundeinsichten der christlichen Überlieferung in neuer, anschaulicher Gestalt gezielt für die kleinen Leute darzustellen. Dies fehle heute größtenteils.



Ein Interesse an der Kirche, so Graf, sei weiter vorhanden. "Aber viele Christen leiden darunter, dass die kirchliche Verkündigung nur noch wenig verständlich ist." Statt Erwartungen zu erfüllen, würden nur noch religiöse Floskeln verwendet, die zur jeweiligen Situation nichts beitrage. Bezogen auf die Gemeinde sollte es der Pfarrer schaffen, die "freimachende Wahrheit des Evangeliums als gegenwartsrelevantes religiöses Orientierungswissen" auszulegen. Hier sei in der Vergangenheit eine Ferne der Kirche zur modernen Arbeitswelt entstanden. Für Graf hat das derzeitige Dilemma durch die Absenkung der Pfarrgehälter aber auch eine materielle Dimension.



Evangelium zur schlichten Sozialmoral banalisiert



Für die religiöse Kommunikation sei derzeit die Annahme leitend, dass der gebildete Christ der Vergangenheit angehöre: "Wer das gedankliche Anspruchsniveau des Christlichen fortwährend absenkt, hat den Leuten bald nichts Relevantes, Lebensdienliches mehr zu sagen", schreibt Graf. Die Krise der Kirchen gründe sich auch in der Schwäche ihrer Theologie. Der Kirche werde von der Gesellschaft viel Moralmacht eingeräumt, verbunden mit der Hoffnung, Orientierungswissen in ethischen Konflikten zu vermitteln. Doch die frei machende Botschaft des Evangeliums würde von prominenten Kirchenvertretern oft zur schlichten Sozialmoral banalisiert.



Die große Stärke der Kirche sei, dass sie Themen aufgreife und kommuniziere, die von vielen anderen gesellschaftlichen Akteuren ignoriert werden. Trotzdem werde ihre Bedeutung als Organisationen gesellschaftlicher Konsensbildung weiter schwinden, weil sie "inzwischen damit befasst sind, ihre massiven internen Konflikte zu pazifizieren".

Vielfalt protestantischer Frömmigkeitsformen gerecht werden


Auch durch eigene Selbstherrlichkeit hätten die beiden großen Kirchen in den vergangenen Jahren an Vertrauen verloren: Die Zukunft der protestantischen Volkskirche dürfte deshalb aus Grafs Sicht entscheidend davon abhängen, inwieweit sie der Vielfalt ihrer Frömmigkeitsformen gerecht zu werden vermag. Gefragt seien Flexibilität, die Offenheit, sich konstruktiv zur eigenen Herkunftsgeschichte zu verhalten und ein klares Profil.

Um die Akzeptanz bei den Mitgliedern zu stärken, gehe es um kluge Reformen. Bei den Protestanten gehe es vor allem um die Stärkung des Gemeindepfarrers. Dessen Berufsrolle müsse professionell und über seine theologische Kompetenz definiert werden. "Es bedarf einer Pfarrerschaft die gebildet, rational und klug das protestantische Verständnis der neutestamentlichen Freiheitsbotschaft zu vertreten vermag."

Friedrich Wilhelm Graf ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München. Als erster Theologe wurde er 1999 mit dem weltweit renommierten Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. (pro)
Friedrich Wilhelm Graf, Kirchendämmerung: Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, becksche Reihe, ISBN 978-3-406-61379-1, 10,95 Euro.

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen