PRO trifft Johann Matthies einen Tag nach seiner offiziellen Einführung ins Amt des Politikbeauftragten der Evangelischen Allianz in Deutschland. Es ist sein erstes Interview. Matthies ist gut gelaunt und spricht gern über sein Leben und seine neue Aufgabe. Schnell wird klar: Dieser Mann stammt nicht nur aus Osteuropa, er hat als Missionar auch die ganze Region bereist und kennt sie so gut wie wenige Europäer. Auch deshalb hat er eine klare Haltung zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Matthies kann zu jeder Frage mindestens zwei Anekdoten erzählen, bei denen die Zuhörer ihren Ohren nicht trauen: etwa vom Bibelschmuggeln oder einem zufälligen Treffen mit Wladimir Putin im Zug.
PRO: Herr Matthies, Sie sind Ihr ganzes Berufsleben lang Missionar gewesen, warum wollen Sie jetzt Politikbeauftragter für die Evangelische Allianz sein?
Johann Matthies: Für mich bedeutet Mission, den christlichen Glauben dort zu leben und zu bezeugen, wo Kirche noch nicht oder inzwischen nicht mehr präsent ist. Gerade an solchen Orten begegnet man politischen und kulturellen Herausforderungen, wie sie unseren etablierten Kirchen oft unbekannt sind. Deshalb sehe ich bei mir keinen Bruch zwischen der geistlichen und der politischen Berufung. Als junger Erwachsener habe ich einige Jahre lang meine gesamte Freizeit damit verbracht, Bibeln in kommunistisch regierte Länder zu schmuggeln. Das stärkte nicht nur die Kirchen hinter dem Eisernen Vorhang, sondern barg auch einiges an politischer Sprengkraft in ihrem totalitären Umfeld. Auch mein mennonitisch geprägtes Elternhaus war nie wirklich unpolitisch: Die Nachrichten aus aller Welt bestimmten unsere Tischgespräche. Nach dem Gymnasium und meiner beruflichen Ausbildung in Ludwigshafen ging ich in die USA und habe dort zunächst Sozialwissenschaften studiert, später Theologie und schließlich auch Geschichte. Was in meinem Umfeld eher ungewöhnlich war: Ich bin Mitglied einer Partei geworden – und war zuletzt in verschiedenen politischen Leitungsgremien der CDU aktiv. Das verbindet meine neue Position mit meinem bisherigen Weg: Mein Interesse galt und gilt immer den Berührungspunkten zwischen christlicher und nicht-christlicher Lebenswelt, zwischen dem Reich Gottes und der Welt, in der es gebaut wird.

Wieso sind Sie Missionar geworden?
Ich wurde an einem ganz unscheinbaren Abend in unserem Haus in Frankenthal in der Pfalz berufen. Mein Großvater hatte Geburtstag – und spielte eine Predigt ab, damals noch auf Kassette. Ich war 19 Jahre alt – und wurde mitten ins Herz getroffen. Die Predigt stammte von Wilhelm Pahls, einem Evangelisten, der einst hinter dem Eisernen Vorhang unterwegs war und in deutschen Gemeinden in Zentralasien predigte. Wie er davon erzählte, klang fast wie ein James-Bond-Film: Wenn jemand Fremdes an der Tür des Versammlungshauses erschien, musste der Prediger durch den Hintereingang fliehen und sofort untertauchen. Doch was mich wirklich traf, war eine zentrale Passage in seiner Botschaft. Er sprach zu den Christen aus der Sowjetunion, die inzwischen in Deutschland lebten: „Ihr, die ihr aus dem Osten zu uns gekommen seid, könntet euer Leben damit verbringen, all die materiellen Güter zu jagen, die euch dort gefehlt haben. Aber ich habe das geistliche Leben in der Sowjetunion erlebt. Wir brauchen euch – hier, als Missionare in Deutschland.“ Dieser Satz ließ mich nicht mehr los.
…weil auch Sie ursprünglich aus der Sowjetunion stammen und 1978 mit Ihrer Familie nach Deutschland übersiedelten…
Ich hatte bis dahin nie in diese Richtung gedacht. Ich ging auf mein Zimmer, fiel auf die Knie und sagte zu Gott: „Hier bin ich, sende mich!“ So wurde mein neues Ziel ein missionarischer Dienst im Tschad. Zwei Jahre lang lernte ich Französisch, statt zu zeichnen, schrauben – ich wollte eigentlich Automobildesign studieren! Ich machte eine Ausbildung als Mechaniker, weil ich wusste, dass handwerkliche Fähigkeiten im Missionsdienst unverzichtbar sein können. Es gab aber auch sofort offene Türen für einen missionarischen Dienst. In unserer Nähe gab es ein Durchgangswohnheim für Flüchtlinge, Spätaussiedler und politische Häftlinge aus der DDR, die freigekauft worden waren. Gemeinsam mit meinem Vater begann ich, dort jede Woche Gottesdienste zu organisieren.
Sie sind Mennonit. Für diese Freikirche hat Gewaltfreiheit einen zentralen Stellenwert. Die Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden hat sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen. Die Evangelische Allianz hat sich zu Waffenlieferungen bisher nicht geäußert. Wie stehen Sie persönlich dazu?
Um Ihre Frage angemessen zu beantworten, muss ich etwas weiter ausholen. Nach unserer Rückkehr aus den USA und zwei Jahren im Kirchendienst in Sachsen zogen wir als junge Familie in den Nordkaukasus – in eine Gemeindegründungsarbeit, die mit der Übersetzung der Bibel in eine lokale Turksprache verbunden war. Dort erlebten wir zwei äußerst brutale Tschetschenienkriege und den Aufstieg Wladimir Putins. Ihm war ich schon einmal begegnet, bei einer früheren Russlandreise, während einer Zugfahrt.
Das müssen Sie erzählen.
In den Sommerferien 1991 reiste ich von Kalifornien in die sich langsam öffnende Sowjetunion – mit dem Ziel, gemeinsam mit einigen sehr mutigen einheimischen Partnern den ersten christlichen Verlag des Landes zu gründen. Es waren bewegte Wochen, geprägt von vielen Flügen und Begegnungen. Einmal jedoch nahm ich den Nachtzug von Sankt Petersburg nach Tallinn in Estland. Der Waggon war fast leer, bis auf zwei auffällig präsente Leibwächter und zwei weitere Passagiere: Anatoli Sobtschak, der damalige Bürgermeister von Sankt Petersburg, und sein Stellvertreter Wladimir Putin. Die beiden luden mich in ihr Abteil ein und wir kamen ins Gespräch. Sie kannten bereits meinen ältesten Bruder, der zu jener Zeit als Vertreter der deutschen Wirtschaft in Sankt Petersburg tätig war. So kam es, dass Putin mir ein überraschendes Angebot machte: Er lud mich ein, in sein Team zu kommen. Er erklärte, dass die Großstädte der Sowjetunion hungerten. Was ihnen fehlte, seien die deutschen Großbauern, die vor der Revolution einen Versorgungsring aus Farmen um Moskau und Petersburg gebildet hatten. Ich lehnte dankend ab. Meine Berufung lag woanders.
Wie haben Sie Putin wahrgenommen?
Im Grunde fast gar nicht! Die Person, die mich damals interessierte, war Anatoli Sobtschak – der Wirtschaftsprofessor, das Hirn der Perestroika, der Mann, der Leningrad seinen deutschen Namen Sankt Petersburg zurückgab. Ich sagte zu ihm: „Ich bin mir sicher, ich reise gerade in einem Abteil mit dem künftigen Präsidenten Russlands!“ Ich hatte mich nur um einen Meter vertan. Es wurde Putin. In den Jahren seither habe ich immer mehr von seiner Handschrift gesehen. Am 1. September 2004 überfielen islamistische Terroristen eine Schule im nordossetischen Beslan und pferchten über 1.100 Menschen, darunter viele Kinder, in die Sporthalle. Ohne Wasser, ohne Nahrung, mit dem Ziel, ein Ende der russischen Aggression in Tschetschenien zu erzwingen. Putin, damals in seiner ersten Amtszeit als Präsident, nutzte die Belagerung nicht nur für einen umfassenden Verfassungsbruch, während die ganze Welt auf diese Schule starrte. Er ordnete an, dass kein einziger Terrorist lebend entkommen dürfe – und opferte dafür das Leben von 331 Geiseln, die meisten von ihnen Kinder. Es wurde mit Panzern auf die Schule geschossen, ohne Rücksicht. Ich war damals auf Dienstreise, ganz in der Nähe, vor den Toren von Beslan. Ich hing am Hörer, bekam alles mit. Ein befreundeter ossetischer Pastor verlor in jener Tragödie fünf seiner sechs Kinder. Ich denke bis heute daran. Als ich Jahre später – zusammen mit der ganzen Welt – sah, wie Putin Angriffswaffen in Richtung Ukraine verlegte, wusste ich sofort: Das ist ernst! Und dann kamen Bilder in den Nachrichten: Auf den Zügen, graue Fahrzeuge der Russischen Nationalgarde. Da war klar: Es geht nicht nur um Eroberung. Es geht darum, den zivilen Widerstand in den besetzten Gebieten zu brechen.
Und was folgt daraus für Sie in der Frage der Waffenlieferungen?
Mein persönlicher Pazifismus ging nie so weit, dass ich unsere Bundeswehr, Polizei oder Spezialkräfte entwaffnet sehen wollte. Die entscheidende Frage, die wir uns als Christen stellen sollten, lautet vielmehr: Sollten wir selbst ein Schwert führen? Also: eine Waffe besitzen – und sie im Ernstfall auch einsetzen? Diese Frage muss jeder im Gespräch mit Gott für sich selbst beantworten. Ich habe, selbst in Kriegsgebieten, nie eine Waffe getragen, auch nicht in Afghanistan! Meine Friedensethik schließt aber immer auch die Frage nach dem Schutz der Opfer von Gewalt ein. Und deshalb trage ich so schwer an der Beobachtung: Wenn wir unsere militärische Unterstützung für ein Land, das unsere Werte teilt und Teil des freien, gemeinsamen Hauses Europa sein will, nicht ausschöpfen, machen wir uns mitschuldig an dem Leid, das dort geschieht. Ich bin stolz auf Deutschland: Was wir alles für die mehr als eine Million zu uns geflüchteten Ukrainer getan haben, ist ohnegleichen! Bei uns zu Hause haben seit Beginn des Krieges zwei ukrainische Waisenkinder gelebt – inzwischen junge Frauen. Eine von ihnen ist vor kurzem nach Kyjiw zurückgekehrt. Kurz darauf musste sie erleben, wie eine Rakete ein Wohn-Hochhaus in ihrer Nähe traf, nachts, voller schlafender Menschen. 28 Tote waren zu beklagen. Dazu die endlosen Drohnenangriffe: gezielte, gelenkte Angriffe auf Zivilisten. Pure Absicht. Staatsterror. In Anbetracht dieser Realität nicht alles zu tun, was zur Flugabwehr möglich wäre und stattdessen zu sagen: „Wir liefern Waffen, aber nur mit begrenzter Reichweite“ ist nicht nur politisch kurzsichtig. Aus Sicht der ukrainischen Bevölkerung ist es zynisch.
Das heißt, es sollte keine Beschränkungen bei Waffenlieferungen aus Deutschland geben?
Wir haben angefangen – mit Helmen? Das war kein Symbol der Vorsicht, sondern der Preisgabe. Man hätte auch gleich sagen können: Wir liefern euch Ukrainer eurem Schicksal aus. Und heute? Der einzige Grund, warum wir in Deutschland künftig bis zu fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgeben müssen, ist Russland. Der einzige Grund, warum Polen, Finnland, Belgien eine Armee brauchen, ist Russland. Wenn es so weit kommt, dass Russland, wie explizit angekündigt, weiter gen Westen marschiert, werden Reichweitenbeschränkungen keine Rolle mehr spielen. Dann kämpfen wir an unseren eigenen Grenzen. Friedrich Merz hat kürzlich gesagt: Israel macht im Iran die Drecksarbeit für uns.
Was macht dann die Ukraine für uns – gegenüber Russland? Sie kämpft, unter schlimmsten Verlusten, für die Freiheit Europas: zunächst für die Freiheit Estlands, die Existenz Moldawiens, aber eben auch für alle anderen Nachbarn und für uns. Natürlich gibt es auch andere und weitere Mittel im Kampf gegen den russischen Angriffskrieg: politische Gespräche, diplomatischer Druck, internationale Solidarität. Und ich selbst bete, dass Putins System von innen zerbricht, dass diese Herrschaft der Gewalt nicht weiter triumphiert – auch nicht in Russland selbst!
Das sind starke politische Statements. Nun als Politikbeauftragter ist es Ihre Aufgabe, einerseits Seelsorger für Politiker und andererseits Diplomat zwischen Politik und Kirche zu sein.
Innerkirchlich beschreibe ich meine Aufgabe oft mit zwei biblischen Begriffen: Sie hat eine pastorale und eine prophetische Seite. Die pastorale Seite bedeutet für mich: echtes Interesse an den Menschen, mitten im Politikbetrieb. Ich will die Menschen wahrnehmen – alle! Nicht nur die Abgeordneten oder Kabinettsmitglieder, sondern auch die Praktikanten, die Sicherheitskräfte, die Reinigungskräfte oder den Caterer im Bundestag. Pastorale Präsenz heißt: da sein, zuhören, begleiten – ohne Agenda, aber mit Herz. Die prophetische Seite ist ebenso wichtig: Wir müssen auch sagen, was wir für wahr, richtig und notwendig halten. Aber auch diese prophetische Stimme, die Mahnung, das Gewissen, der Widerspruch soll biblischen Maßstäben folgen: Sie soll aufbauend sein, getragen von Demut und geprägt von Respekt. Ich verstehe meine Aufgabe deshalb auch diplomatisch: als Stimme für jene im Bundestag, die keine eigene Stimme haben. Das betrifft den Lebensschutz, die verfolgten Glaubensgeschwister weltweit, die Menschen in bitterer Armut – in Ländern, die wirtschaftlich abgehängt sind und in denen sich Hoffnung kaum noch in Worte fassen lässt. Und nicht zuletzt geht es auch um uns hier in Deutschland. Ich will mich einsetzen für mehr Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Denn aus Polarisierung entsteht Radikalisierung und aus Radikalisierung erwächst Unheil. Was wir brauchen, ist das, was die Bibel so oft beschreibt: Brückenbauer, Friedensstifter, Menschen, die nicht auf Abgrenzung, sondern auf Versöhnung setzen.
Unser Kolumnist Uwe Heimowski zitiert Sie mit den Worten „Wir müssen jetzt schon mit allen imstande sein, das Abendmahl zu feiern, mit denen wir es im Himmel tun werden!“ Glaubt man ihm, dann ist Einheit Ihr Lebensthema. Wie steht es um die Einheit in der Evangelischen Allianz? Denn es gibt ja einige Streitpunkte von Homosexualität bis zum Umgang mit der AfD…
Wäre die Einheit der Christen ein Selbstverständlichkeit, wäre sie mein Lebensthema nicht. Stattdessen ist sie auch bei uns ein fortwährendes Ringen, ein Prozess in den wir uns investieren. Auch für Jesus war die Einheit ein Herzensanliegen. Um Wahrheit zu erkennen und in ethischen oder politischen Fragen geeint zu sein, gründen wir unsere Suche auf gemeinschaftliches Hören auf das Wort – auf das gemeinsame Gebet und eine gemeinschaftliche Hermeneutik. Durch die Vielzahl der Arbeitskreise und der Runden Tische hat die Evangelische Allianz in Deutschland die nötige Tiefe und Kompetenz, um bei gesellschaftlichen Themen zu gemeinsamen Stellungnahmen und Orientierungen zu kommen. Dabei bleiben wir parteipolitisch neutral. Wenn uns Positionen der AfD oder einer anderen Partei im Bundestag nicht behagen, dann reden wir über die Themen und nicht über die Parteien. So auch bei der kürzlich erarbeiteten Stellungnahme des Arbeitskreises Politik für die Würde aller Menschen und gegen völkisches und ausgrenzendes Denken.
Vielen Dank für das Gespräch!
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Von: Martin Schlorke/Anna Lutz