Vom Missionsimpuls zur globalen Kirchenplattform

Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) gilt als zentrales Organ der ökumenischen Bewegung. Seine Ursprünge liegen in Missionsbestrebungen im frühen 20. Jahrhundert – seine Zukunft hängt stark von Entwicklungen im globalen Süden ab.
Von Norbert Schäfer
Der Kirchenhistoriker Frank Hinkelmann stand PRO Rede und Antwort zum Ökumenischen Rat der Kirchen

Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) – auch Weltkirchenrat genannt – ist seit 1948 eine der größten kirchlichen Plattformen weltweit und gilt als zentrales Organ der ökumenischen Bewegung. Der Begriff „Ökumene“ stammt aus dem Altertum. Kirchenhistoriker Frank Hinkelmann erklärt gegenüber PRO: „Die Wurzeln des Wortes liegen im griechischen ‚oikein‘, was ‚wohnen‘ bedeutet. Das passive Partizip ‚oikumene‘ wurde bereits im 5. Jahrhundert als Sammelbegriff für die bewohnte Erde verwendet, später auch für das Römische Reich.“ Ab dem 6. Jahrhundert blieb vor allem der religiöse Gebrauch in dem Sinn, dass der Begriff auf die gesamte weltweite Christenheit abzielte. Der Patriarch von Konstantinopel verwendete den Begriff bis heute als eine Art Ehrentitel.

Eine neue Bedeutung erhielt der Begriff im 19. Jahrhundert durch zwei evangelikale Bewegungen: „Die neu gegründete Evangelische Allianz und später der CVJM verwendeten ‚ökumenisch‘ erstmals als Bezeichnung für eine Haltung, die herkömmliche Grenzen von Nation, Konfession und Klasse überwinden sollte – damals allerdings noch auf den Protestantismus beschränkt“, erklärt Hinkelmann.

Die moderne ökumenische Bewegung begann 1910 mit der Weltmissionskonferenz in Edinburgh. Unter Leitung von John Mott wurde elf Jahre später der Internationale Missionsrat gegründet, der weitere Weltmissionskonferenzen organisierte. Daneben entstanden zwei weitere Strömungen: die „Comission for Faith and Order“ (Kommission für Glaube und Kirchenverfassung) unter dem anglikanischen Bischof Charles Brent mit dem Ziel, „Lehrgrundlagen einer geeinten Christenheit“ zu erarbeiten, und die „World Conference for Life and Work“ (Praktisches Christentum) unter Erzbischof Nathan Söderblom mit Schwerpunkt auf ethisch-praktischen Fragen.

Gründung inmitten wachsender Spannungen zwischen Ost und West

Schon ab 1933 gab es Gespräche über eine Zusammenführung der Bewegungen, doch der Zweite Weltkrieg unterbrach diese. Erst 1948 kam es in Amsterdam zur Gründung des ÖRK. „Man muss die Gründung im Gesamtzusammenhang sehen – parallel zur Gründung der Vereinten Nationen und inmitten wachsender Spannungen zwischen Ost und West“, sagt Hinkelmann. 147 Kirchen aus 44 Ländern waren dabei, jedoch nicht die römisch-katholische Kirche. Die ist bis heute nicht Mitglied im ÖRK. „Das hat mit ihrem Selbstverständnis zu tun – protestantische Kirchen werden von Rom bis heute nicht als ‚Kirchen‘ anerkannt“, erläutert der Kirchenhistoriker.

Heute zählt der ÖRK 349 Mitgliedskirchen aus mehr als 120 Ländern mit zusammen mehr als 550 Millionen Christen. Darunter sind fast alle orthodoxen Kirchen, zahlreiche anglikanische, baptistische, lutherische, methodistische und reformierte Kirchen sowie viele charismatische und unabhängige Gemeinschaften. Große Teile der Pfingstbewegung stehen dem ÖRK jedoch distanziert gegenüber. „Das liegt an historischen Gründen und theologischen Fragen – etwa am Verständnis der Bibel als inspiriertes Wort Gottes“, erklärt Hinkelmann.

Höchstes Organ der ÖRK ist die Vollversammlung, die sich turnusgemäß alle acht Jahre trifft. Dazwischen wird die Arbeit vom Zentralausschuss (150 Mitglieder) erledigt, der aus seinen Reihen einen Exekutivausschuss wählt. ÖRK-Generalsekretär ist derzeit Jerry Pillay aus Südafrika, Vorsitzender des Zentralausschusses der frühere EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm.

Guerillagruppen im Kampf gegen Rassismus

Anfang der 1960er-Jahren fusionierte der ÖRK mit der Weltmissionskonferenz. „Doch das Missionsverständnis veränderte sich stark – weg vom Fokus auf Bekehrung, hin zu politisch-gesellschaftlichem Engagement“, erklärt Hinkelmann, und weiter: „Das ging soweit, dass der ÖRK in Afrika Guerillagruppen im Kampf gegen Rassismus und Unterdrückung unterstützte – und gleichzeitig gegenüber der Verfolgung von Christen im Sozialismus schwieg.“ Diese massive ideologische Akzentverschiebung führte zum Rückzug evangelikaler Kirchen und Kreise und zur Bildung eigener Strukturen.

Hinkelmann betont die Unterschiede: „Die Evangelische Allianz wurde 1846 gegründet, um nicht Kirchen, sondern Gläubige aus verschiedenen Kirchen zusammenzubringen. Der ÖRK dagegen hatte immer Kirchen als Mitglieder.“ Mission und Evangelisation stehen laut Hinkelmann bei der Allianz im Vordergrund, beim ÖRK gehe es eher um Dialog und Zusammenarbeit.

Eine Charta oder ein Grundsatzprogramm hat der ÖRK bislang nicht. Es gibt eine Art Grundsatzerklärung, die 1997 nach achtjährigen Beratungen vom Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen angenommen wurde und den Mitgliedskirchen und ökumenischen Partnern zur Prüfung und Beschlussfassung empfohlen wurden. Das Dokument „Common Understanding and Vision“ (CUV) fußt auf vorangegangenen ÖRK-Erklärungen und definiert das Selbstverständnis des ÖRK und stellt die Zusammenarbeit seiner Mitgliedskirchen auf eine gemeinsame Grundlage.

Das CUV macht deutlich, dass der ÖRK keine „Weltkirche“ ist, sondern eine „Gemeinschaft von Kirchen“, die sich auf der Basis ihres gemeinsamen Glaubens an Jesus Christus verbunden wissen. Die Mitgliedskirchen eint das Bekenntnis „zu dem einen Gott, Vater, Sohn und Heiligem Geist, gemäß der Heiligen Schrift“. Der Auftrag des ÖRK besteht darin, die sichtbare Einheit der Christen in Glauben, Sakramenten und gemeinsamer Lebenspraxis zu fördern. Dazu gehören die Förderung theologischer Reflexion, der Dialog zwischen den Kirchen, die Zusammenarbeit in Fragen von Mission, Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsverantwortung sowie die Unterstützung von Minderheitskirchen und Kirchen in Krisensituationen.

Das CUV betont die Prinzipien des gegenseitigen Respekts und der Eigenständigkeit jeder Mitgliedskirche. Entscheidungen werden nach Möglichkeit im Konsens getroffen, um die Vielfalt der kirchlichen Traditionen und Kulturen zu achten. Die Vision des ÖRK versteht Ökumene nicht nur als organisatorische oder institutionelle Zusammenarbeit, sondern als gemeinsamen Weg des Glaubens, der gegenseitigen Fürsorge und des gemeinsamen Zeugnisses in der Welt.

Kirchen behalten ihre Selbständigkeit

Aber welche Durchsetzungskraft und Befugnisse hat der ÖRK gegenüber seinen Mitgliedern? „Verbindlich ist da gar nichts“, sagt Hinkelmann. Das gelte auch für kontroverse Erklärungen, etwa wie aktuell der ÖRK-Verlautbarung zur Israel-Palästina-Frage. „Das kann in Genf entschieden werden, aber Kirchen behalten ihre Selbstständigkeit.“

Die Zukunft des ÖRK sieht Hinkelmann von globalen Verschiebungen geprägt: „Die liberal geprägten Kirchen des Nordens schrumpfen, während im globalen Süden evangelikal geprägte Kirchen wachsen – oft mit konservativen theologischen und ethischen Positionen.“ Daraus folgert er: „Theologisch-ethisch wird der ÖRK allein aus zahlenmäßigen Gründen immer konservativer werden.“

Hinkelmann hält fest: „Der ÖRK wollte nie die ‚Weltkirche‘ werden – auch wenn man ihm das oft unterstellt. Sein Wert liegt darin, Kirchen verschiedenster Traditionen zusammenzubringen, etwa beim Thema der Religionsfreiheit und der Friedensarbeit. Gerade im Nahen Osten, wo die Christenheit stark von orthodoxen und orientalischen Kirchen vertreten wird, kann der ÖRK Einfluss haben.“

Ob der ÖRK als Kirchenplattform künftig noch einmal an Bedeutung gewinnt, hängt für Hinkelmann davon ab, ob es gelingt, „die wachsende Dynamik des globalen Südens mit der strukturellen Erfahrung des Nordens zu verbinden – ohne an den inneren theologischen Spannungen zu zerbrechen“.

Frank Hinkelmann ist Rektor des Martin Bucer Seminars und Professor an der Interdisziplinären Doktoratsschule der Aurel Vlaicu Universität Arad, Rumänien. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Evangelikalen Bewegung. Der Kirchenhistoriker engagiert sich seit vielen Jahre in leitenden Gremien der Evangelischen Allianz sowohl national als auch international. Hinkelmann lebt in Österreich.

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