„Vom Geist der Revolution ist nichts übrig“

Mit großer Mehrheit haben die Ägypter für eine Verfassungsänderung in ihrem Land gestimmt. Daniel Ottenberg, Referent für Menschenrechte der Hilfsorganisation "Open Doors Deutschland", hat die Zeit vor der Wahl in Ägypten verbracht. Im Gespräch mit pro erklärte er, warum eine Überarbeitung der Verfassung zum jetzigen Zeitpunkt den Christen in Ägypten schadet.

Von PRO

pro: Wohin man auch schaut: Bahrein, Libyen oder Jemen – überall scheint derzeit der Konflikt zwischen Demonstranten und Regierungen oder dem Militär zu eskalieren. Einzig in Ägypten hat sich die Lage nun, nach dem Sturz Husni Mubaraks, beruhigt. Trügt der Schein?

Daniel Ottenberg: Es ist in Ägypten ruhiger geworden. Mubarak ist weg, die Demonstranten haben ihr Ziel erreicht. Der Tahrir-Platz ist wieder ein ganz normaler Verkehrsknotenpunkt. Vom Geist der Revolution ist nichts mehr übrig.

Der koptische Bischof Anba Damian beklagte in der vergangenen Woche ein verstärktes Vorgehen des Militärs gegen Christen im Land.

Das Militär sendet sehr gemischte Signale aus. Einerseits sehen wir Gesten guten Willens: Vor drei Wochen wurde in einem Vorort von Kairo eine Kirche niedergebrannt. Die Christen haben öffentlich demonstriert, das wurde sogar vom TV-Sender "Al Dschasira" aufgenommen und gesendet. Es gab eine Aufnahme, in der eine junge Demonstrantin ein Plakat in die Kamera hielt, auf dem stand: "Jesus ist Liebe". Eine solche Freiheit für Christen hat es in Ägypten noch nie gegeben. Das Militär hat sofort bekannt gegeben, es wolle die Täter ermitteln, bestrafen und die Kirche wieder aufbauen. Wir haben in der vergangenen Woche erfahren, dass die Staatssicherheit aufgelöst worden ist. Das war die Behörde, unter der die Christen ganz besonders gelitten haben. Die Staatssicherheit hat Christen festgenommen, verhört, gefoltert und auch getötet. Die Frage ist: Was kommt jetzt? Christen sind in Ägypten noch immer in der Minderheit, sie werden nach wie vor diskriminiert und missachtet. Es ist kein Zufall, dass die Armee ausgerechnet kurz vor den Wahlen am vergangenen Samstag die Abschaffung der Staatssicherheit bekannt gegeben hat. Damit wollte man die Christen in Sicherheit wiegen. Auf der anderen Seite hat das Militär den Drahtzieher des Mordanschlags auf Anwar al-Sadat im Jahr 1981 in der vergangenen Woche aus der Haft entlassen. Sadat hatte sich zu seiner Zeit als Staatspräsident verstärkt für den Frieden mit Israel eingesetzt. In den Medien wurde sein Widersacher gefeiert und er verkündete seine Überlegung, sich zur kommenden Wahl zu stellen. Das ist beängstigend.

Wiegt das Militär die Christen also in einer trügerischen Sicherheit?

Ich denke, das Militär will vor allem Ruhe im Land und ein Stück Normalität. Es gab in den letzten Wochen keine Polizei mehr auf den Straßen, das Militär hat alles allein regeln müssen. Das war eine absolute Überforderung, auch für die größte Armee des Nahen Ostens. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das Militär die Macht tatsächlich abgeben will. Die Ägypter spekulieren, dass sich die Armee schon lange mit einem Präsidentschaftskandidaten geeinigt hat, den sie zum Oberhaupt des Landes machen will. Es ist anzunehmen, dass es dem Militär nicht darum geht, nun Minderheitenrechte zu installieren oder gar die Menschenrechte zu schützen. Es geht darum, Ruhe ins Land zu bekommen. Die einzig organisierten und deshalb wählbaren Parteien sind derzeit die Muslimbruderschaft und die Partei Mubaraks, die es immer noch gibt.

Stehen Christen und Muslime in Ägypten nach wie vor im Prostest zusammen?

Es gab vereinzelte Zusammenstöße zwischen den Religionsanhängern, auch im Rahmen der Proteste gegen die Kirchenzerstörung in Kairo. Was den Tahrir-Platz angeht: Bis Mubarak zurückgetreten war, haben Christen und Muslime tatsächlich zusammen demonstriert. Der gemeinsame Wunsch nach Veränderung hat sie verbunden. Das ging sogar soweit, dass ein Christ gemeinsam mit einem Imam auf einer Bühne vor den Demonstranten predigen durfte. Direkt nach dem Rücktritt Mubaraks ist diese Gemeinschaft zerbrochen.

Die meisten Christen in Ägypten fürchten nichts mehr, als einen wachsenden Einfluss der Muslimbruderschaft…

Das Ja zur Verfassungsänderung der Bevölkerung in der vergangenen Woche hat gezeigt, wie stark die Muslimbruderschaft ist. Radikalislamische Organisationen haben sehr für die Verfassungsänderung geworben, auch wenn es paradox klingt. Die Änderungen an sich sind zwar gut, aber sie umfassen nur technische Fragen, etwa Wahlverfahren und so weiter. Die Rechte der Christen oder anderer Minderheiten sind dadurch nicht gestärkt worden. Eine große Verfassungsrevision, wie sie die Christen und andere gefordert haben, ist ausgeblieben. Die Christen haben außerdem mehr Zeit bis zur Wahl gefordert, damit Parteien gegründet werden können. Derzeit sieht es so aus, als würden im Oktober oder November Parlamentswahlen ausgerufen. In einem halben Jahr eine Partei zu gründen, ein Programm zu verabschieden und dafür zu werben, ist fast unmöglich. Von der jetzigen Situation profitieren nur die etablierten Parteien – unter anderem die Muslimbrüder.

Wie geht es für die Christen jetzt weiter?

Darüber diskutieren die Christen in Ägypten derzeit sehr stark. Manche sagen, sie wollen sich aus der Politik raus halten, es bringe sowieso alles nichts. Andere fragen: Wenn wir Parteien gründen, wie sollen diese aussehen? Christlich oder gemischt? Christlich würde bedeuten, dass die Partei wenige Stimmen bekäme und auf eine Koalition hoffen müsste. Gemischt würde bedeuten, mit moderaten Muslimen zusammenzuarbeiten, um eine gemeinsame Partei zu gründen und so eine Säkularisierung zu erreichen, so dass auch Minderheiten Teilhabe am Staat bekommen würden. Viele halten letzteres für den besseren Weg.

Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Haben die Christen in Ägypten eine Chance auf Teilhabe und Gerechtigkeit?

Ich fürchte, dass es nicht zu einer Gleichberechtigung kommen wird. In vielen Bereichen werden Christen noch immer gesellschaftlich diskriminiert. Die Vorurteile sind tief verwurzelt. Ein Familienvater erzählte uns etwa, es sei in ägyptischen Schulen ganz normal, dass die Kinder gefragt würden: Bist du Muslim oder Christ? Christen spielten in Ägypten nicht mit Muslimen und umgekehrt. Natürlich gibt es auch liberale Familien, aber das Land ist noch weit davon entfernt, eine Demokratie mit Menschenrechten zu werden, wie wir sie hier in Deutschland kennen.

Blicken wir ein Jahr in die Zukunft: Wie sieht es dann in Ägypten für die Christen aus?

Ich könnte mit vorstellen, dass viele Christen gar nicht erst versuchen, für eine gerechtere Politik zu kämpfen. Viele haben Angst und sind es seit Jahrhunderten gewöhnt, eine Minderheit zu sein. Die Christen haben gelernt, dass sie die besten Chancen haben, durchzukommen, wenn sie möglichst still sind. Wir haben mehrfach gehört: Es ist doch ganz normal, dass wir übergangen, diskriminiert und verfolgt werden, das ist doch nichts Besonderes. Es gibt aber auch eine Avantgarde, die Christen an Veränderungen beteiligen will. Deshalb wird es weiterhin Christen in der Politik geben. Und sollte es zu einer Regierung kommen, die in die islamistische Richtung tendiert, wer weiß, vielleicht gibt es auch neue Demonstrationen.

Vielen Dank für das Gepräch!

Die Fragen stellte Anna Wirth

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