Die Harmonika-Freunde spielen „Heal the world. Make it a better place“ (Heile die Welt, mache sie zu einem besseren Ort) von Michael Jackson zur Begrüßung. Kaum ein anderes Lied würde besser zum Programm von Josip Juratovic passen. Drei Wahlkampftermine hatte er heute bereits. Der SPD-Direktkandidat im Wahlkreis Heilbronn kämpft um ein Mandat für den Bundestag. An diesem Nachmittag steht die Ehrung langjähriger Mitglieder bei zwei SPD-Ortsvereinen an. Im Schloss Kirchhausen ehrt Juratovic unter anderem das SPD-Urgestein Lotte für ihre 60-jährige Mitgliedschaft. Als sie in die SPD eingetreten ist, war Juratovic noch nicht einmal geboren.
Der 58-Jährige vertritt seine Partei seit 2005 im Deutschen Bundestag. 1974 kam er gemeinsam mit seiner Mutter aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland. Er besuchte die Hauptschule in Gundelsheim, absolvierte eine Lehre zum Automechaniker und arbeitete bis 2000 in diesem Beruf. Er leistete seine Schichten am Fließband. 1998 nahm er die deutsche Staatsbürgerschaft an. In den Jahren 2000 bis 2005 war er als freigestellter Betriebsrat für einen baden-württembergischen Autobauer aktiv.
Ökumene als Vielfalt und nicht als Trennung erleben
Juratovic ist in der katholischen Kirchgemeinde St. Nikolaus in Gundelsheim zu Hause. Durch seine beruflichen Verpflichtungen kann er den Gottesdienst nur unregelmäßig besuchen. „Für mich ist es sehr interessant, in den vielen verschiedenen Kirchgemeinden in meinem Wahlkreis unterwegs zu sein, um Gottes Wort zu hören.“ Ökumene wertet er als eine große Bereicherung unter Christen. Unterschiede sollten seiner Meinung nach als Vielfalt und nicht als Trennungsgründe erlebt werden.
Ein besonderer Ort für den dreifachen Vater ist die Michaelskapelle auf dem Michaelsberg bei Gundelsheim, seinem Heimat- und Wohnort. „Wenn ich irgendwie Zeit erübrigen kann, bin ich sehr gerne dort. Ich höre auf Gott, teile meine Sorgen und lege mein Schicksal in seine Hände.“ Gott ist für den Politiker der Schöpfer, der gerechte, wahrhaftige und heilige Gott. „In allem was er tut, erkenne ich seine Liebe, sein Erbarmen und seine Gnade für uns Menschen“, erklärt er im Gespräch mit pro. Bei ihm findet der Politiker Ruhe, um wichtige Entscheidungen zu treffen und zu überdenken.
Für Juratovic spielt der christliche Glaube eine wichtige Rolle im Leben und in der Politik. Vor allem die Bergpredigt ist für ihn ein wertvoller Text: „Sie ist eine Leitlinie für die Gesellschaft und die Richtschnur für meine Arbeit. Jesus zeigt, wie Chancengleichheit und Gerechtigkeit in einer Gesellschaft gelingen können. Die Bergpredigt hilft mir, mein politisches Handeln und Denken intensiver vom Wort Gottes her zu reflektieren. Dafür bin ich dankbar“, erklärt Juratovic im Gespräch. In Berlin nimmt er an den regelmäßigen Gebetstreffen der Parlamentarier teil. Dort treffen sich Christen aller im Bundestag vertretenen Fraktionen.
„Ich kann Gesellschaft gestalten“
„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“, so steht es in der Präambel des Grundgesetzes. Für Juratovic ist der Satz zum Vorsatz seiner politischen Arbeit geworden. „Der Glaube an Gott ist eine ständige Energiequelle“, sagt der SPD-Politiker, der seine Arbeit liebt, weil er die Gesellschaft mitgestalten kann. „Viele Menschen vertrauen mir und haben mich gewählt. Das macht mich auf der einen Seite demütig, aber auf der anderen Seite auch froh, dass ich auf Gottes Hilfe vertrauen kann.“
Sein Weg in den Bundestag war steinig. Juratovic zog bei den vergangenen drei Bundestagswahlen jeweils über die Landesliste Baden-Württemberg in den Bundestag ein. Dabei musste er heftige Kämpfe gegen das SPD-Establishment ausfechten. Dass er kein Akademiker ist, warfen ihm die Parteikollegen bei seiner ersten Kandidatur vor zwölf Jahren vor. Juratovic ist stolz auf seine Herkunft. „Ich bin der Einzige im Bundestag, der einmal am Fließband gearbeitet hat, und einer von nur 50, die ein Handwerk erlernt haben“, sagt er.
Kritik äußerten die Sozialdemokraten auch an seinem jugoslawisch-schwäbischen Akzent, der die Herkunft des Politikers nicht verleugnen kann. Lupenreines Hochdeutsch spricht im Wahlkreis sowieso kaum jemand, das hört jeder auf der Veranstaltung hier. Juratovic geht auf Parteifreunde im Saal zu. Lacht, scherzt, umarmt Bekannte. Seine offene Art und sein freundliches Auftreten machen den Mann sympathisch. Dass der Wiedereinzug in den Bundestag kein Selbstläufer wird, ist ihm klar. Das sagt er auch auf diesem Wahlkampftermin und bittet die Genossen um Unterstützung. „Die Stimmung ist gut, aber helft bei den Aktionen und an den Infoständen“, bittet er. Auf der Landesliste steht Juratovic auf Platz 16. .Je nach Umfrageinstitut sind die Prognosen für ihn dem wackligen letzten Platz entsprechend mal gut, mal schlecht. Seit Monaten.
Zu viel Aufmerksamkeit für Autokraten
Das erschüttert den Demokraten jedoch nicht. Der macht sich viel mehr Sorgen um den Gesundheitszustand der Demokratie. „Die wurde so hart erkämpft und manchmal sogar mit dem Leben bezahlt.“ Juratovic wünscht sich mehr aktive Beteiligung an der politischen Gestaltung des Landes. „Wir Christen werden gebraucht, um in Parteien und in Gremien mitzuarbeiten“, sagt er. „Wenn sich nur jeder 200. politisch engagiert, ist das zu wenig.“ Er warnt vor „Bewegungen aus dem rechten Spektrum“ im In- und Ausland, die versuchten die repräsentative Demokratie zu unterwandern. Damit hat er auch in seinem Wahlkreis zu kämpfen. Er warnt vor Autokraten wie Putin, Erdogan und vor Alexander Gauland von der AfD, die „die Sprache vergiften“ und Medien als „Lügenpresse“ bezichtigten. Ihnen werde zu viel Aufmerksamkeit geschenkt, bemängelt er.
Parallelen zwischen der Bibel, vor allem der Bergpredigt, und der SPD sieht Juratovic in den Grundüberzeugungen seiner Partei. „Solidarität, Frieden und Gerechtigkeit sind ur-sozialdemokratische Werte.“ Er vergleicht die SPD, der er 1982 beigetreten ist, mit der Kirche. „Die Struktur ist ähnlich. Auch hier wurden Fehlentscheidungen getroffen oder falsche Wege eingeschlagen. Ich trage die Fehler mit und versuche immer wieder, die wichtigen Ursprungsgedanken in die heutige Zeit zu übersetzen und weiter an einer gerechten Gesellschaft zu arbeiten. Das ist eine Lebensaufgabe für uns Christen und Sozialdemokraten.“
Kampf um jede Stimme, aber nicht um jeden Preis
Er kämpft deshalb für die Schwachen und Benachteiligten in der Gesellschaft. Daran lässt er auch heute Nachmittag bei Kaffee und Kuchen vor den rund 60 SPD-Parteigenossen im Rittersaal des Schlosses Kirchhausen keinen Zweifel. „Jeder Mensch ist gleich viel wert. Vor Gott sind alle Menschen gleich“, lässt er die Versammlung wissen. Kindern, Alleinerziehenden, Familien, Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen und Rentnern gilt ein Großteil seines Engagements. „Ich setze mich dafür ein, dass alle die gleichen Chancen bekommen. Das hat jeder Mensch verdient“, erklärt er den Anwesenden mit Nachdruck.
Dass Menschen trotzt Vollzeitarbeit nicht genügend Geld verdienen, um ihr Leben, die Familie oder ihre Wohnung finanzieren zu können, ärgert ihn. Juratovic wird energisch hinter dem Rednerpult, das ihm bis zur Brust reicht. „Das ist einfach nicht gerecht. Arbeit muss angemessen entlohnt werden.“ Anerkennender Beifall der Parteifreunde. Für unehrliche Manager bekannter Autokonzerne, die nach seiner Einschätzung Arbeitsplätze gefährden und die Automobilbranche in Verruf bringen, hat er wenig übrig. „Das ist Betrug! Das regt mich wahnsinnig auf und muss Konsequenzen haben“, erklärt er im Gespräch.
Ein großer Herzenswunsch des Sozialdemokraten ist die Bewahrung des Friedens. Dafür will sich der Politiker immer wieder mit seiner ganzen Kraft einsetzen. „Ich komme aus dem ehemaligen Jugoslawien, habe Krieg erlebt und weiß, wie furchtbar grausam bewaffnete Konflikte ausgehen.“ Alte und Junge nicken schweigend und zustimmend. Lotte, die heute für 60 Jahre Parteimitgliedschaft geehrte wird, weiß, wovon Juratovic redet. Als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses setzt er sich stark für die Versöhnung auf dem Balkan ein. Er hat die Armenien-Resolution des Bundestages mit auf den Weg gebracht. Das macht ihn bei den türkischstämmigen Wählern im Wahlkreis nicht beliebt. Das weiß er. „Ich kämpfe um jede Stimme“, sagt Juratovic, „aber nicht um jeden Preis.“ (pro)
Von: nob