„Viele“ oder „alle“? Eine evangelische Antwort auf den Papst

"Viele" statt "alle" – nur ein Wort hatte der Papst in der Liturgie zum Abendmahl geändert. Doch das reichte, um eine große Diskussion auszulösen. Wir haben den Neutestamentler Hans-Joachim Eckstein gebeten, eine Einschätzung aus evangelischer Sicht zu schreiben.
Von PRO

Man hat es als Papst nicht leicht! Aber die katholische Kirche und speziell die deutsche hat es mit ihrem Papst Benedikt XVI. auch nicht einfach – ganz zu schweigen von den evangelischen Kirchen! Allerdings muss man mit der Änderung eines einzigen Wortes auch erst einmal so viel Aufsehen erregen können, wie es dem Papst mit seinem Brief an die deutschen Bischöfe gelungen ist. Mit "für viele" sollen die Worte "pro multis" in den Gebeten der Messe wieder übersetzt werden – und nicht länger mit "für alle". Fortan soll es an der heiligsten Stelle der Liturgie wieder lauten: "Dies ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für Euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden". So irritierend diese Unterscheidung zunächst erscheinen mag, so klar lässt sie sich aus evangelischer Sicht doch einordnen.

Jesus reichte nach dem Matthäusevangelium beim letzten Mahl den Jüngern den Kelch mit den Worten: "Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden." Bei der Wendung "für viele" handelt es sich also um die korrekte wörtliche Übersetzung des in Griechisch verfassten Evangeliums nach Matthäus (26,28) und nach Markus (14,24). Hätten diese hervorheben wollen, dass numerisch "alle" gemeint sind, hätten sie dies im Griechischen klar ausdrücken können: hyper panton – "für alle". Dies war aber gar nicht notwendig, da beide Evangelisten zugleich den eindeutigen Verkündigungs- und Missionsauftrag Jesu an seine Jünger weitergeben, das Evangelium "allen Heidenvölkern" zu verkündigen. Dies setzt voraus, dass auch Heiden – und zwar "alle" – zu "den vielen" gehören, für die der Sohn Gottes sein Leben gab, um sie für Gott zurückzugewinnen. Jesus ist nach dem einmütigen Zeugnis des Neuen Testaments "für alle" und nicht nur für "wenige" oder für "nicht alle" gestorben.

Exegetisch zutreffend

So spricht auch Paulus von der im Sterben Jesu "für alle" von Gott vollzogenen Versöhnung der "Welt" – also nicht nur Israels oder der Gerechten, sondern der Gott gegenüber feindlichen Welt (2 Kor 5,14-21). Und der 1. Johannesbrief (2,2) nimmt unsere Diskussion quasi schon vorweg: "Er ist die Sühne für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt."

Wenn Jesus ausdrücklich von der Vergebung für die "vielen" spricht, ist das als bewusste Bezugnahme auf den Gottesknecht in Jesaja 53,4-12 zu verstehen, der die Sünden der vielen trägt und sie durch die Hingabe seines Lebens gerecht macht – er, der Eine, für die Vielen! Als "viele" werden hier Menschen bezeichnet, die zuvor in die Irre gingen und nur auf ihren eigenen Weg schauten, die von sich aus durch Sünde und Vergehen gekennzeichnet waren. So hatte Jesus bereits auf dem Weg zum Kreuz angekündigt, er, der Menschensohn, sei gekommen, "um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele". Mit "viele" sind also nicht nur einzelne oder wenige, sondern eine Vielzahl bezeichnet, die von sich aus versöhnungsbedürftig und auf die Zuwendung Gottes angewiesen sind. Bei "viele" geht es also nicht primär um die Angabe der quantitativen Vollzahl "alle", sondern um die qualitative Kennzeichnung der "vielen" zu Versöhnenden – aus Israel und den Völkern.

Die Irritationen des päpstlichen Schreibens entstehen vor allem dadurch, dass durch die Korrektur "nicht alle, sondern nur viele" eine Abgrenzung vorgenommen wird, die der biblischen Wendung fremd ist, sogar zuwiderläuft. Das Evangelium will gerade nicht ausschließend formulieren ("viele, nicht alle"), sondern im Gegenteil einschließend und einbeziehend: "Der eine für die vielen – für die vielen und nicht nur für die wenigen". Denn zu den mit "vielen" Bezeichneten gehören die Jünger Jesu sowie die "verlorenen Schafe aus Israel" wie auch die "Heiden".

Was Protestanten wirklich stören sollte

Die Teilnahme am Mahl des Herrn bedeutet verbindliche Gemeinschaft und bewusste Übereignung an den Herrn, der aus Liebe sein eigenes Leben dahin gab – "für uns"! Wenn nach der Überlieferung des Paulus und des Lukas beim Brotwort statt von "für viele" von "für euch" gesprochen wird, kommt darin für die Mahlgemeinschaft die persönliche Zuwendung und der unmittelbare Zuspruch und Anspruch zum Ausdruck: "Das ist mein Leib für euch!" (1 Kor 11,24; Lk 22,19). Der Papst wahrt in der verbindenden liturgischen Formulierung "für euch und für viele" die verschiedenen Facetten des biblischen Zeugnisses also zutreffend und umfassend.

Was einen nicht-römisch-katholischen Gläubigen am Schreiben des Papstes – trotz aller Übereinstimmung in den exegetischen Einzelaussagen – enttäuscht, sind nicht etwa Neuerungen oder Veränderungen des Bestehenden. Vielmehr ist es die römisch-katholische Verweigerung, das Mahl des Herrn mit all den "vielen" anderen Glaubenden gemeinsam zu feiern. Wenn die Apostel und Evangelisten von den "vielen" sprachen, für die Christus gestorben ist, dann erinnerten sie jene Teile der Urgemeinde an die Worte Jesu und der Schrift, die als Judenchristen in Jerusalem die Gläubigen "aus den Heiden" so nicht als "gerecht" und zugehörig akzeptierten. Waren diese Judenchristen doch der Überzeugung, dass es kein Heil außerhalb ihrer eigenen – als der einzigen – Kirche geben könne, weshalb Paulus selbst dem Apostel Petrus einmal öffentlich um der Wahrheit des Evangeliums willen widersprechen musste.

Sollte die Rückbesinnung auf den Wortlaut der biblischen Texte dahin führen, dass bei jeder Feier der Messe die ökumenische Weite der "vielen" statt der "wenigen" ins Gedächtnis käme, könnte man in der Rückkehr von "für alle" zu "für viele" theologisch gar noch einen Fortschritt erkennen. Die Gewissheit, dass Christus noch heute den einen Kelch an die vielen mit den Worten reicht: "für euch und für viele zur Vergebung der Sünden" verbindet Christen bereits seit Jahrhunderten!

Dr. Hans-Joachim Eckstein ist Professor für Neues Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

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