Verlorene Kindheit: Film zeigt Alltag in Koranschulen

Mit seinem neuen Film ist Regisseur Shaheen Dill-Riaz eine kleine Sensation gelungen: Er filmte in den eigentlich für die Öffentlichkeit unzugänglichen Madrasas, den Koranschulen, in Bangaldesch. "Korankinder" läuft am heutigen Donnerstag in einigen deutschen Kinos an und zeigt den Alltag von jungen Bengalen, denen die strenge Ausrichtung nach dem Koran die Kindheit stiehlt.
Von PRO

Die Räume der Koranschule im bengalischen Amirabad sind nur karg eingerichtet. Auf dem Boden liegen Teppiche, damit die Kinder sich nicht die Knie aufschürfen. Hier verbringen die Schüler einen Großteil ihrer Tage. Auf dem Boden. Kniend. Den Blick starr auf den Koran gerichtet, der vor ihnen in einem Gestell ruht. Obwohl sie hier das Beten und die Worte ihrer heiligen Schrift lernen sollen, geht es alles andere als andächtig zu. Die Kinder sind in ständiger Bewegung, wippen mit dem ganzen Körper vor und zurück, das gehört zu ihrer Gebetshaltung. Sie alle reden wild durcheinander. Nicht mit ihren Sitznachbarn, sondern sie üben, die Worte des Koran auswendig wiederzugeben, auch wenn sie die arabischen Laute, die sie von sich geben, gar nicht verstehen. Das ist der Alltag der Kinder in Amirabad. Hier, in den Räumen der Madrasa, essen, schlafen und lernen sie. Mit ihrer Ausbildung könnten sie eines Tages Haifz, ein Geistlicher, werden. Dann, so verspricht es der Islam, wird Allah ihnen und ihrer Familie im Jenseits wohl gesonnen sein.

Madrasas: Kaderschulen für Islamisten?

„Können wir jeden Tag mehr Terroristen festnehmen und töten, oder von ihren Taten abhalten, als die Madrasas und die radikalen Geistlichen rekrutieren, ausbilden und auf uns loslassen?“, zitierte die Zeitung „New York Times“ 2003 den damaligen Verteidigungsminister der USA, Donald Rumsfeld. Regisseur Shaheen Dill-Riaz hat sich auf die Reise nach Bangladesch gemacht, einem der Länder mit dem größten muslimischen Bevölkerungsanteil, um den geheimnisvollen Kaderschulen auf den Grund zu gehen. Nur durch persönliche Kontakte gelang es dem gebürtigen Bengalen überhaupt, einen Fuß in die Schulen zu setzen. „Filmen ist unislamisch“, lautet der Vorwurf, der seine Dreharbeiten fast unmöglich gemacht hätte. Am heutigen Donnerstag läuft „Korankinder“ dennoch in den deutschen Kinos an. Die Frage, ob Madrasas islamistische Kämpfer hervorbringen, beantwortet er nicht. Aber er zeigt Kinder, die nach Jahren des Drills eigentlich keine mehr sind. Er zeigt Kinder, die keine Kindheit erleben durften. Er zeigt Kinder, die zwar alle 6.234 Verse des Koran auswendig können, aber in ihrem Heimatland keine beruflichen Perspektiven haben, weil ihre Allgemeinbildung zu schlecht ist.

„Wir sind hier, um euch zu formen, um aus euch etwas Nützliches zu machen“, erklärt einer der Koranlehrer im Dokumentarfilm den Schülern am ersten Tag ihrer Ausbildung. „Wenn wir euch schlagen, ist das zu eurem Besten.“ Was das bedeutet, zeigt sich wenige Szenen später. Einer der Lehrer, Mohammed Ismael, bittet einen der Schüler, neben ihm Platz zu nehmen und das Gelernte aufzusagen. Macht der Junge zu viele Fehler, schlägt sein Mentor ihn mit einer Rute. Freizeit haben die Kinder in der Madrasa kaum. Um zwanzig vor vier stehen sie auf. Gelernt wird den ganzen Tag. Viele von ihnen besuchen ihre Eltern kaum noch – damit das Heimweh nicht zu schlimm wird, wie eine Mutter verrät.

Armut und Religion treiben Kinder in Koranschulen

Dass die Eltern ihren Kindern eine solche Ausbildung antun, hat verschiedene Gründe. Fast 90 Prozent der Bevölkerung in Bangladesch sind Muslime. „Ein Kind für Allah zu opfern“, wie es im Film heißt, öffnet ihnen laut dem Koran den Weg in den Himmel. Auch die Armut in Bangladesch ist bedrückend. Viele Eltern können sich die Ausbildung ihrer Kinder nicht leisten. Die meisten Madrasas finanzieren sich durch Spenden von Moscheebesuchern. Das ermöglicht den Kindern eine kostengünstigere Ausbildung. Doch obwohl die Koranschulen auch im säkularen Bereich ausbilden, liegt ihr Schwerpunkt auf dem Rezitieren des Koran. Ihn komplett auswendig zu können, ist das Ziel der Lehre. Auch deshalb genießen die Madrasas einen schlechten Ruf. Für Absolventen gibt es meist nur zwei Wege: Sie werden Geistliche oder besuchen eine weiterführende Schule oder Universität.

„Wenn du von der Madrasa kommst, hast du die Lust am Lernen verloren“, berichtet ein Absolvent im Film. Die geistliche Welt der Koranschule war nichts für ihn. Seine Eltern sahen das anders. Nach dem Ende seiner Ausbildung, müde vom ständigen Auswendiglernen, schaffte er es nicht, sich weiterzubilden. Heute ist er arbeitslos. „95 Prozent schaffen es danach nicht“, sagt er und spricht vom Schicksal seiner Mitabsolventen. Für Muslime ebnen die Madrasas den Weg im Jenseits – für das diesseitige Leben, so scheint es im Film, nützt die Ausbildung nicht viel.

„Ich denke, dass man in den Gesichtern viel lesen kann“, sagt Regisseur Dill-Riaz über die Kinder in seinem Film. Ihre Blicke zeugen von einer verlorenen Kindheit. Radikalität unterstellt der Filmemacher seinen Protagonisten aber nicht: „Madrasas, die radikale Islamisten ausbilden und solche Verbindungen haben, gibt es sehr wenige.“ Dennoch: In seinem Film tritt ein Lehrer auf, der den Abfall der Menschen vom Islam beklagt. „Der Staat muss die Menschen zwingen, nach dem Islam zu leben“, ist er überzeugt. „Man muss nicht unbedingt Waffen haben, da wo ein Kind in Psyche und Gedankenwelt eingeschränkt wird, da ist eine viel größere Gefahr für die Gesellschaft“, sagt Dill-Riaz. Am Ende seines Films stellt er die Frage: „Kann ein liebender Gott zulassen, dass Kinder ihre Kindheit opfern?“ (PRO)

Korankinder, 2008, Start: 4.6.2009, 86 Minuten, Mayalok Filmproduktion

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