Vergebung – aber ohne den Glauben

Wie geht gute Vergebung? Haben Schuldgefühle auch etwas Gutes? Diese Fragen geht eine dreiteilige ZDF-Dokumentation auf interessante Weise an – allerdings vollständig ohne mit einem Wort den Glauben oder die Kirche zu erwähnen.
Von Jörn Schumacher

In drei Folgen der ZDF-Reihe „Terra Xplore“ befasst sich der Psychologe Leon Windscheid damit, wie Schuld vergeben werden kann und was Schuld und Vergebung mit unserer Gesundheit machen. „Schuld und Vergebung gehören zu den essenziellen Themen, die das Zusammenleben in unserer Gesellschaft prägen“, heißt es in der Sendungsankündigung. Die erste Folge ist am kommenden Sonntag, den 25. Februar zu sehen, die zweite am 3. März, die dritte am 24. März. In der ZDFmediathek sind alle Folgen bereits jetzt verfügbar.

Die erste Folge ist wahrscheinlich die intensivste, denn hier trifft Windscheid ein Elternpaar, das seine Teenager-Tochter verloren hat. Ihre 14-jährige Tochter Line starb 2016 in ihrem Zimmer, während die Eltern nebenan ahnungslos schliefen. Lines 20-jähriger Freund war bei ihr, er hatte ihr Drogen mitgebracht, sie starb am Morgen an einem Mix aus Fentanyl und Ecstasy. Der Freund wurde später zu einer neunmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt.

Heute sagen die Eltern, Vergebung – auch sich selbst gegenüber – sei ein längerer Prozess gewesen. „Es wird einem bewusst, dass die Selbstvorwürfe nichts bringen, denn was geschehen ist, können wir nicht rückgängig machen“, sagt die Mutter. Gefühle des Hasses oder der Wunsch nach Rache gegenüber dem schuldigen 20-Jährigen seien ihm nicht gekommen, sagt der Vater. Das hätte am Tod der Tochter auch nichts geändert. Das bedeute aber nicht, dass er die Tat akzeptiere. „Aber mit dieser Schuld muss er klarkommen, es kann nicht meine Aufgabe sein, für ihn das zu bewältigen.“

Moderator Windscheid sagt: „Ich hoffe, dass in dieser Geschichte eine Einsicht für uns alle steckt. Denn wir alle erleben Momente, wo wir betrogen werden, oder nicht so behandelt werden, wie wir uns das wünschen, oder wo wir in der Schule gemobbt wurden. Kurz: Momente, wo wir vielleicht vergeben wollen.“

Impuls, loszulassen von Vergangenem

Die Frage „Warum sollten wir überhaupt vergeben?“ beantwortet die Soziologin und Konfliktforscherin Sonja Fücker von der Universität Bielefeld so: Es gebe einen Impuls bei Menschen, auch angesichts großen zugefügten Leides und eines Gefühls der Frustration „loslassen“ zu wollen – zu vergeben. Hannah Arendt habe einmal gesagt, unser Leben könnte gar nicht weitergehen, wenn wir uns nicht ständig das verzeihen würden, was wir uns einander antun.

Das bedeute aber nicht, dass man mit den Taten einverstanden ist oder sie vergessen muss, so Fücker.

Die Psychologin Angela Merkl-Maßmann von der Medical School Berlin sagt im Interview indes, nicht alles könne so einfach vergeben werden. „Vor allem, wenn Dinge wiederholt auftreten, ist sogar psychologisch eher zu raten, sich von diesen Personen zu trennen.“ Eine wichtige Voraussetzung für Vergebung sei, damit aufzuhören, immer wieder über das Vergangene nachzugrübeln und sich darüber zu ärgern, so Merkl-Maßmann. Windscheid selbst fügt die Erkenntnis von wissenschaftlichen Studien an: „Menschen, die nicht vergeben, schlafen schlechter, sind von einer Angespanntheit getrieben und haben Herz-Kreislauf-Probleme. Bei Menschen, die vergeben, lassen diese Symptome nach.“

Wie in allen drei Sendungen wird auch in dieser Folge, die am Sonntag, dem 25. Februar 2024, um 18.30 Uhr im ZDF ausgestrahlt wird, niemals der Glaube oder die Kirche thematisiert. Erstaunlich, ist doch gerade die Botschaft von der Vergebung Gottes durch Jesus und die Aufforderung, anderen zu vergeben, der Kern des christlichen Glaubens.

Hamoniesüchtige vergeben immer

In der zweiten Folge am Sonntag trifft Windscheid einen verurteilten Betrüger. Der 34-jährige Nico sitzt in der JVA Geldern eine Haftstrafe ab, weil er gewerbsmäßigen Betrug begangen hat. Auf die Frage, ob er sich schuldig fühlt, zögert Nico sehr lange, dann sagt er: „Doch, schon.“ Vor allem seinem Sohn gegenüber fühle er sich schuldig, weil er sich nicht um ihn kümmern könne.

Wie in allen drei Folgen konfrontiert Windscheid auch hier Fremde auf der Straße mit der Frage, wie sie mit Schuld umgehen. Die Entwicklungspsychologin Tina Malti von der Universität Leipzig sagt im Interview: „Es gibt auch Schuldgefühle, die positiv sind.“ Denn sie führten oft dazu, dass man etwas wiedergutmachen will.

In der letzten Folge geht es weniger um Schuld, als vielmehr um Menschen, die Konflikte um jeden Preis vermeiden wollen. Manche Menschen hätten geradezu Angst davor, in Konflikte zu gehen, sie seien harmoniesüchtig, sagt Windscheid. „Die vergeben dann alles.“

Er trifft den Comedian Atze Schröder, der von sich selbst sagt, harmoniesüchtig zu sein. Der Comedian und der Psychologe produzieren seit 2018 gemeinsam den Podcast „Betreutes Fühlen“ und sind dadurch Freunde geworden. Seine Eltern hätten nie gestritten, sagt Schröder im Interview, und so habe er nie eine Streitkultur erlernt. Er sei immer extrem höflich zu allen, so der Comedian, der auf der Bühne mit seiner Kunstfigur dann umso provokanter auftrete. „Ich könnte mich privat nicht einmal an der Supermarktkette vordrängeln.“

Thomas Bachmann, Konfliktforscher von der Humboldt-Universität Berlin erklärt: „Harmonie“ könne bedeuten, dass die Konflikte nur ignoriert, aber nicht gelöst werden. Konflikte könnten aber auch „fruchtbar“ sein, so der Forscher. „Obwohl wir gerade in einer Welt von Konflikten leben und merken, dass das ganz schön fürchterlich ist, gehören sie aber dazu. Die Frage ist, wie man sie löst. Aber ohne Konflikte gibt es keinen Fortschritt und keine Veränderung. (…) Und wenn ich immer harmoniesüchtig bin, kann ich nicht für meine eigenen Bedürfnisse sorgen.“

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