Am Sonntagabend hatten etwa 2.000 koptische Christen gemeinsam mit einigen Muslimen in Kairo einen friedlichen Protestzug begonnen. Sie demonstrierten gegen einen Brandanschlag radikaler Muslime auf eine Kirche in der Region Assuan und forderten von der Militärregierung eine Absetzung des dortigen Gouverneurs. Vor dem Gebäude des staatlichen Fernsehens fand eine Sitzblockade statt. Die Angaben darüber, wer für den plötzlichen Gewaltausbruch bei der Kundgebung verantwortlich ist, gehen auseinander.
Einige Augenzeugen wollen laut "Welt Online" beobachtet haben, wie koptische Demonstranten den Soldaten, die das Fernsehgebäude bewachen sollten, die Waffen entrissen und diese gegen sie richteten. Die Demonstranten sollen Polizisten und Sicherheitsleute mit Steinen und Stöcken attackiert und Autos in Brand gesteckt haben. Andere Augenzeugen berichten, dass zuerst die christlichen Demonstranten von Schlägertrupps radikaler Muslime angegriffen worden seien. Diese Schlägertrupps hätten sich im Verlauf der Kämpfe auch gegen die Soldaten gewendet.
Nach den ersten Ausschreitungen wollte das Militär die Demonstration auflösen und setzte hierzu zunächst Tränengas und Warnschüsse ein. Es kam zu einer Straßenschlacht: Mehrere Autos und ein Bus wurden in Brand gesetzt, tausende Menschen bewarfen sich mit Steinen und Brandsätzen. Die Kopten wurden von Soldaten und Zivilisten attackiert. "Schlägertypen griffen uns an und ein Militärfahrzeug sprang über den Bürgersteig und überfuhr mindestens zehn Menschen", sagte Essam Chalili, einer der Demonstranten, laut "Welt Online". Doch auch die Soldaten wurden Opfer der Gewalt.
In einem Bericht der ARD-"Tagesthemen" ist zu sehen, wie offenbar koptische Demonstranten mit Holzkreuzen und Steinen auf einzelne Soldaten einschlagen. Als ein Soldat bei der Flucht aus einem brennenden Panzer zu Boden stürzt, stürmen mehrere Männer auf ihn zu und treten auf ihn ein. Am Ende der Ausschreitungen sind nach Angaben der ägyptischen Regierung 22 Zivilisten, ein Polizist und drei Angehörige des Militärs tot.
Ägyptische Medien machen Stimmung gegen Christen
"Erstmals seit dem Sturz des autoritären Präsidenten Hosni Mubarak im Februar dieses Jahres heizten die staatlichen Medien einen schwelenden Konflikt durch offene Hetze gegen die religiöse Minderheit der koptischen Christen zusätzlich an", berichtet Gregor Mayer, Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Es sei nicht die erste friedliche Sitzblockade von Kopten vor dem Gebäude des staatlichen Fernsehens gewesen, aber diesmal seien die Demonstranten von aufgehetzten muslimischen Jugendbanden und Anwohnern gewaltsam angegriffen worden. Das staatliche Fernsehen sei dann bei der Berichterstattung über die Ausschreitungen zu "offener Hetze" übergegangen und habe unter anderem immer wieder behauptet, dass die Kopten zwei Soldaten getötet hätten, obwohl deren Tod bis jetzt noch gar nicht aufgeklärt worden sei.
Die Militär-Staatsanwaltschaft nahm am Montagabend 19 Christen und zwei Muslime in Untersuchungshaft, denen sie Zerstörung öffentlichen Eigentums und Angriffe auf die Armee vorwirft. Die Anzahl der festgenommenen Christen stehe in merkwürdiger Diskrepanz zum Anteil der Christen unter den Getöteten, stellten Beobachter fest. Die Vereinigungen der koptischen Christen suchten die Schuld für die blutigen Zusammenstöße beim Militär. "Das gewalttätige Vorgehen (der Soldaten) war schlimmer als das, was die israelische Armee mit den Palästinensern macht, die Kassam-Raketen abfeuern", hieß es in ihrer gemeinsamen Erklärung, die am Dienstag von der christlichen Zeitung "Watani" veröffentlicht wurde.
Finanzminister Hazem al-Beblawi begründete seinen Rücktritt am Dienstag mit der "schwachen Leistung der Regierung beim Umgang mit den Zusammenstößen". Das erfuhr die Nachrichtenagentur dpa am Dienstag aus Regierungskreisen. Der ausgewiesene Experte für Finanzen und Entwicklungspolitik war zugleich auch Vize-Ministerpräsident für die Wirtschaft und erst seit Juli dieses Jahres im Amt. Zuvor hatte er jahrelang für internationale Finanzorganisationen gearbeitet, zuletzt für den Arabischen Währungsfonds in Abu Dhabi. Ein Mitglied des an die Stelle Mubaraks getretenen Militärrates, General Ismail Etman, erklärte der BBC, dass die Militärpolizei bei den Zusammenstößen am Sonntag keine scharfe Munition eingesetzt habe. Dem widersprachen allerdings die ersten Obduktionsberichte, wonach zahlreiche Demonstranten an Schussverletzungen gestorben seien, berichtete die Webseite ahram.org. Aufklärungsbedürftig bleibe außerdem, warum zwei Radpanzer der Armee an jenem Abend in die Menge der Demonstranten gerast waren und mehrere Menschen praktisch zermalmt hatten, meinten Bürgerrechtsaktivisten in Kairo.
Die tragischen Ereignisse riefen weltweit bestürzte Reaktionen hervor. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon ermahnte die Ägypter zur Besinnung auf den historischen Wandel vom Jahresanfang. Von den Behörden der Übergangsregierung forderte Ban, die Menschen- und Bürgerrechte aller Ägypter zu schützen, gleich, welchen Glaubens sie sind. US-Präsident Barack Obama rief alle Seiten zur Mäßigung auf. "Diese tragischen Ereignisse sollten zeitnahen Wahlen und einem fortgesetzten Übergang in eine friedfertige, gerechte und umfassende Demokratie nicht im Wege stehen", teilte das Weiße Haus in Washington am Montag (Ortszeit) mit.
Bundesregierung: Freiheit aller Religionen schützen
In Ägypten wurden am Montag die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt, vor den Parlamentsgebäude wurden zusätzliche Soldaten positioniert. Die Regierung befürchtet neue Unruhen. Der vom Militär eingesetzte Ministerpräsident Essam Scharaf sagte in einer Fernsehansprache: "Diese Ereignisse haben uns mehrere Schritte zurückgeworfen. Anstatt uns vorwärts zu bewegen, um einen modernen Staat auf demokratischen Grundsätzen aufzubauen, bemühen wir uns wieder um Stabilität."
"Die ägyptische Regierung muss die Vorgänge so schnell wie möglich aufklären", sagte der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, am Montag in Berlin. Die Bundesregierung sei "sehr besorgt" über die Ausschreitungen und die vielen Opfer. Die Regierung in Kairo müsse für ein Klima der religiösen Toleranz im Land sorgen. "Gewalt und religiöser Zwist dürfen den Prozess der Demokratisierung nicht stoppen", hieß es in einer vom Auswärtigen Amt veröffentlichten Erklärung von Außenminister Guido Westerwelle (FDP). "Das ist nicht akzeptabel, dass Menschen körperlich oder sogar mit dem Leben bedroht werden, weil sie ihren christlichen Glauben praktizieren wollen", sagte Westerwelle außerdem laut einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung". Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Volker Kauder, zeigte sich in einer Pressemitteilung "zutiefst schockiert": "Es darf nicht zugelassen werden, dass radikale Kräfte die Oberhand gewinnen, die den friedlichen Übergang Ägyptens in ein demokratisches und weltoffenes Land stören wollen."
Auch die deutschen katholischen Bischöfe haben unterdessen ein Ende der Gewalt gegen Christen gefordert. "Ägypten hat seine neue Freiheit erlangt. Diese muss das Land jetzt aufrechterhalten", sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, den Dortmunder "Ruhr Nachrichten" (Dienstag). "Ich appelliere, die dramatische Spirale der Gewalt zu beenden." Der Münchner Kardinal Reinhard Marx sagte am Dienstag, Bundesregierung und Europäische Union seien aufgefordert, einer radikalen politischen Islamisierung entschieden entgegenzutreten und auf die Einhaltung der Menschenrechte zu dringen. "Es darf nicht sein, dass sich jetzt Regime verfestigen, die den Aufbau pluraler und toleranter Demokratien zu konterkarieren trachten, und die
Grundrechte wie die Religionsfreiheit mit Füßen treten", sagte Marx in München. Die Ausschreitungen gegen die Kopten vom Sonntag seien ein neuer erschütternder Höhepunkt der weltweiten Christenverfolgungen.
100.000 Kopten haben Ägypten schon verlassen
Seit dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak im Februar 2011 sind bereits 100.000 koptische Christen aus Ägypten ausgewandert. Die Zahl nannte eine ägyptische Menschenrechtsorganisation Ende September. Naguib Gabriel, Direktor der Organisation, bezeichnete die zunehmende Einschüchterung der Christen durch fundamentalistische Muslime und den mangelnden Schutz der Regierung als Grund für diese Massenflucht. Der Sozialwissenschaftler Fouad Ibrahim befürchtet in der Onlineausgabe der "Welt" eine Verschlechterung dieser Situation nach den Wahlen im November: "Alle islamistischen Strömungen zusammen werden wahrscheinlich 70 Prozent bekommen", lautet seine Prognose. "Zuletzt hat man die Wahlkreise vergrößert, damit die Stimmen der kleinen christlichen Wohngebiete untergehen". Christen würden bedroht und auf dem Arbeitsmarkt eklatant benachteiligt.
Am Sonntagabend hieß es in den "Tagesthemen": "Für die christliche Minderheit scheint sich der arabische Frühling zu einem Alptraum zu entwickeln." (pro/dpa)