Uwe Siemon-Netto: Weltenbürger und Ur-Leipziger 

Der Journalist und Theologe Uwe Siemon-Netto lebte in Hongkong und New York, in Kalifornien und Frankreich. Tief in seinem Herzen blieb er Leipziger. Sein Patenkind, der Journalist Matthias Pankau, erinnert sich an einen echten Griewatsch*.
Von PRO

Ich habe meinen Patenonkel erst kennengelernt, als ich bereits 13 Jahre alt war. Das war kurz nach dem Fall der Berliner Mauer. Vorher waren Begegnungen nicht möglich, weil er im Westen Deutschlands lebte, ich im Osten. Er war zwar mein Taufpate, hatte sich bei der Taufe zu Ostern 1977 aber vertreten lassen müssen. Denn die DDR hatte ein Einreiseverbot gegen ihn verhängt. Auf Lebenszeit! Sein Vergehen: Er hatte mit seinen Berichten und Reportagen das SED-Regime gegen sich aufgebracht. 

Etwa mit einer großen Geschichte über den einstigen sächsischen Jugendevangelisten Theo Lehmann unter der Zeile „Jetzt beten sie wieder“. Zu Lehmanns Gottesdiensten im damaligen Karl-Marx-Stadt kamen in den 70er Jahren bis zu 5.000 junge Menschen pro Gottesdienst. 

Uwe machte das im Westen publik. Wenn er fortan nach Leipzig kam, waren stets Stasi-Mitarbeiter auf ihn angesetzt. Einen von ihnen fragte er beim Blick aus der Hotel-Bar auf die Messestadt provokant: „Was habt Ihr nur aus meinem schönen Leipzig gemacht?“ Der entgegnete: „Härr Siemon-Näddo, Sie wärn diese Schdadd nich wiedorsähn.“ Am nächsten Tag bekam er das Einreiseverbot.

Jetzt, da die verhasste Mauer gefallen war, durfte er wieder nach Leipzig. Er stieg im ehemaligen Interhotel „Merkur“ ab – ein Hotel, das vormals Gästen aus dem Westen vorbehalten war. Ich erinnere mich, wie mein Vater mich vor dem Haupteingang in unserem beigen Trabant 601 absetzte. 

Bombennächte in Leipzig

Uwe wartete schon und steckte dem Portier einen Schein zu, damit er mir die Wagentür öffnete. Das tat er. Nur am Schließen der Tür scheiterte er kläglich, sodass Uwe sie schließlich selbst zuwarf – mit Schmackes und den Worten: „Beim Trabi braucht es etwas mehr Bumms als beim Mercedes.“

Zusammen mit seiner englischen Frau Gillian lud er mich zum Essen ein. Ich war dankbar, dass es am Ende das italienische und nicht das japanische Restaurant wurde. Spaghetti waren mir vertraut, Sushi nicht. Es war ein Kennenlernen. Und doch war da schnell viel Vertrautheit – vor allem wohl, weil wir denselben sächsischen Humor teilten. 

Wir schmiedeten Zukunftspläne. Er konnte sich vorstellen, nach den vielen Jahren im Ausland in die Stadt seiner Kindheit zurückzukehren – was am Ende nicht klappte. Er schwärmte von seiner geliebten Großmutter Clara Netto, die mit ihm während der Bombenangriffe auf Leipzig im Keller lutherische Choräle sang und ihm hernach Kartoffelpuffer zubereitete. 

Und er erzählte lachend von seiner „Salmi-Bande“, deren Anführer er als sechsjähriger Griewatsch* gewesen war. Deren Schlachtruf gegen die anderen Gangs in der Leipziger Südvorstadt: „Haut’se, haut’se immer auf die Schnauze.“

Matthias Pankau mit seinem Patenonkel Uwe Siemon-Netto

Vor allem aber wollte er wissen, welche Zukunftspläne ich denn hätte, jetzt, da mir die Welt offenstand. Er wurde mein Mentor, holte mich nach dem Abitur nach New York, begleitete mich später während des Volontariats und des Theologiestudiums. Er brachte mir das Schreiben bei, lehrte mich die Liebe zu Luther, zu Bach, zur Welt. 

Er führte mich ein in die feine Gesellschaft – ging mit mir zu Broadway-Aufführungen in New York, nahm mich mit zu Sommerempfängen in Südfrankreich, wo er mir Menschen vorstellte wie den renommierten Dirigenten und Bach-Interpreten Ton Koopman oder die Hamburger Juweliers-Familie Wempe.

Kennedy, Vietnam, Mauerbau

Uwe liebte das Leben in all seinen Facetten. Er war ein Genießer, kein Kostverächter – schrieb für Playboy und Feinschmecker. Er war weltgewandt und überall zuhause – in Hongkong und New York, in Kalifornien und Südfrankreich. Auch beruflich lebte er ein Leben auf der Überholspur. Er berichtete über fast alle großen Ereignisse des 20. Jahrhunderts – ob Kuba-Krise und Kennedy-Attentat oder Mauerbau und Vietnam-Krieg. 

Dann Mitte der 80er Jahre entschied er sich, einen Cut zu machen, seine hochdotierten Stellen aufzukündigen, und Theologie zu studieren. Für seine Frau Gillian damals ein Schock. Kollegen in Hamburg unkten „Uwe, hast Du zu viel gebetet?“ Gebetet hatte er gewiss. 

Denn bereits Jahre zuvor hatte er an der innerdeutschen Grenze eine Art paulinisches Damaskus-Erlebnis gehabt, das ihn fortan nicht mehr losgelassen hatte. Also begann er in den USA Theologie und Religionssoziologie zu studieren, schloss beides mit einer Promotion ab. 

Fortan hatte er zwei Kern- und Herzensthemen: Luthers Rechtfertigungs- und dessen Berufslehre, die besagt, dass jeder Mensch Gott dient, indem er in seinem jeweiligen Amt dem nächsten dient – ganz egal ob Bundeskanzler, Bäcker oder Bierbrauer, ob Maler, Mutter oder Medizinisch-Technische Assistentin. 

2006 gründete er das „Center for Lutheran Theology and Public Life“. Wenn man so will, war er ein ganz weltlicher Botschafter der bedingungslosen Gnade Gottes, die er auch für sich persönlich stets in Anspruch nahm.

Gerechter und Sünder zugleich

Am besten ging es ihm aber, wenn er „drheeme“ war, also zu Hause, in Leipzig. Dann besuchte er „seine“ Thomaskirche, lauschte Motetten und Kantaten, Oratorien und Passionen. War ergriffen von Bachs Musik, der dort von 1723 bis 1750 wirkte. Uwe und ich saßen an Bachs Grab im Chorraum der Kirche, als wir 2012 gemeinsam allen sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums lauschten – und anschließend fein im „Wagner’s“ essen gingen.

In den vergangenen drei Jahren war unser vormals so enges Verhältnis abgekühlt. Wir hatten Meinungsverschiedenheiten. Hier und da meine ich einen gewissen Altersstarrsinn beobachtet zu haben. Stur waren wir allerdings beide – Sachsen eben! 

Dabei wussten wir ebenfalls beide um eigene Schwächen und Fehler. Beizeiten verriet Uwe mir, was dereinst auf seinem Grabstein stehen solle: das zutiefst lutherische und tröstliche „Simul iustus et peccator“. Ja, das ist er immer gewesen: „Gerechter und Sünder gleichermaßen“. Im Leben und nun im Angesicht seines Herrn. 

Danke für alles, Uwe! Du wirst fehlen.

* so nennt man in Sachsen einen Lausejungen

Foto: privat

Uwe Siemon-Netto

Die Mutter Sängerin, der Vater Staatsanwalt, der im Ersten Weltkrieg sein Augenlicht verlor. Uwe Siemon-Netto wuchs in einem bürgerlichen, unpolitischen Elternhaus in Leipzigs Südvorstadt auf. In den 50er Jahren verließ die Familie die DDR. Siemon-Netto wurde Journalist, begann mit 20 eine Ausbildung bei der Westfalenpost, ging dann zur US-amerikanischen Nachrichtenagentur AP. Von 1962 bis 1969 arbeitete er für den Axel-Springer-Verlag als Auslandskorrespondent, war u.a. als Kriegsreporter in Vietnam, schrieb später für den STERN und GEO, war Chefredakteur der Hamburger Morgenpost und Lehrer an der Henri-Nannen-Journalistenschule. Mit 50 begann er ein Theologiestudium in den USA, das er mit einer Promotion über „Luther als Wegbereiter Hitlers?“ abschloss. Uwe Siemon-Netto lebte zuletzt in Kalifornien.

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