„Unterschiedliche Standpunkte sind normal“

Der Mikrobiologe Siegfried Scherer plädiert für eine offenere Diskussion über die Pandemie. Selbst wenn die Pandemie ein Zeichen der Endzeit wäre, sollten Christen alles tun, um Leid zu lindern, rät der gläubige Wissenschaftler. Die Fragen stellte Nicolai Franz
Von PRO
Siegfried Scherer ist Professor für Mikrobielle Ökologie an der Technischen Universität München

pro: Immer mehr Menschen demonstrieren gegen die Corona-Maßnahmen. Im Netz verbreiten sich kritische Videos von Medizinern, Wirtschaftswissenschaftlern und anderen. War der Lockdown ein Riesenfehler?

Siegfried Scherer: Meine Antwort klingt sicher unbefriedigend: Wir wissen es nicht genau. Es gibt Argumente dafür, dass der Lockdown in dieser Schärfe vielleicht nicht notwendig gewesen wäre. Allerdings weiß niemand genau, was passiert wäre, wenn es den Lockdown gar nicht gegeben hätte. Wir konnten nicht vorhersagen, welche Maßnahme welche Wirkung entfalten würde. Vielleicht waren wir zur Zeit des Lockdowns in Deutschland schon über den Berg, aber damals wusste man das eben nicht. Ich halte es für äußerst wichtig, dass wir jetzt im Nachhinein, ohne Schuldzuweisungen, sehr genau und schonungslos analysieren, inwieweit diese einschneidenden, seit dem 2. Weltkrieg nicht dagewesenen Maßnahmen wirklich nötig waren, um bei einer möglichen zweite Welle im kommenden Winter gezielter und differenzierter handeln zu können.

Schweden hat nur moderate Maßnahmen ergriffen, die Krise nimmt dort bisher trotz erhöhter Sterblichkeit bisher keine extremen Ausmaße an, wenn auch die Sterberate höher ist als in Deutschland. Brasiliens Präsident Bolsonaro tut die Gefahr ab, während sein Land immer höhere Infektionszahlen verzeichnet. Wie können wir wissen, welcher Weg richtig ist?

In vielen Ländern ist die Sterberate höher als bei uns. Mit wem vergleichen wir Schweden? In Norwegen und Finnland sieht es besser aus, in Belgien deutlich schlechter. Faktoren wie Siedlungsdichte, Mentalität, Umweltverschmutzung, Anzahl der getesteten Personen und anderes könnten eine Rolle spielen – das wissen wir alles nicht so genau. In Schweden ist die Lage keineswegs katastrophal, das kann uns schon zu denken geben. Erwartungsgemäß verläuft Schwedens Rückgang der Neuinfektionen derzeit deutlich zögerlicher als bei uns. Klar: Je weniger wir den Kontakt zwischen Menschen beschränken, desto mehr Infektionen gibt es. Kein Kontakt heißt: Keine Neuinfektionen. Aber welche Welt erzeugen wir damit? Was ist der gute Mittelweg? Wieviele Infektionen lassen wir zu? Das ist keine virologische, sondern eine ethische und gesellschaftspolitische Frage, eine schwierige Güterabwägung.

Politiker im Krisenmodus haben keine Zeit für langwierige Analysen, sie müssen Entscheidungen treffen. Haben Sie Verständnis dafür?

Ja. Entscheidungsträger wie Angela Merkel oder Markus Söder waren geschockt von Medienberichten von katastrophalen Bildern aus Bergamo, mit Hunderten von Särgen, die in Kirchen aufgestapelt wurden, und sie sahen schnell steigende Infektionszahlen in Deutschland. Das geht an niemandem spurlos vorüber. Wissenschaftlich gesehen hatten wir eine unzureichende Datenbasis, um die Entscheidungen zu treffen, aber man musste entscheiden. Nun kann ich im Nachhinein gut reden, wie hätte denn ich anstelle von Markus Söder entschieden? Also: Kein Vorwurf.

Welche Datenbasis meinen Sie? Vor dem Lockdown in Deutschland zeichnete sich doch schon ab, dass sich Sars-CoV2 sehr schnell verbreitet und dass viele Patienten künstlich beatmet werden müssen. Das hätte bedeutet: Wenn die Beatmungsbetten belegt sind, sterben Menschen, die nicht hätten sterben müssen.

Richtig. Vor dem Lockdown zeichnete sich aber auch schon ab, daß der exponentielle Anstieg der Infektionen vermutlich schon gebrochen war. Heute wissen wir, daß die Reproduktionszahl R am 23. März schon von 3 auf etwa 1 gesunken war, aber das wusste man damals aufgrund mangelnder Daten eben nicht sicher. Was die Beatmungsbetten anbelangt: Man hatte aus den Medien Italien vor Augen, aber Deutschlands Intensivbettenausstattung ist exzellent, und das sieht man auch am Verhältnis von Toten zu Erkrankten, das in Deutschland mit 4,6 Prozent viel niedriger ist in Italien mit 14,3 Prozent. Deutschland ist privilegiert, das hat Gründe. Was in Italien richtig ist, muss nicht unbedingt bei uns richtig sein. Wir wussten zu wenig über das epidemiologische Geschehen. Natürlich konnten unsere Politiker nicht warten, bis sich die wissenschaftliche Zunft auf eine sichere Meinung verständigt hat.

Eine Quelle für eine bessere Datenbasis sind repräsentative Stichproben. Am 9. April, da waren wir schon lange im Lockdown, kündigte das Robert-Koch-Institut (RKI) eine solche Stichprobe an. Ergebnisse würden für Juni erwartet. Diese Woche vertröstete das RKI: Die Stichprobe mit 20.000 bis 30.000 Menschen solle erst im September überhaupt beginnen. Dauert das nicht alles zu lange?

Viel zu lange. Weil wir anfangs nicht genug Testkapazitäten hatten, wurden nur die Menschen auf eine laufende SARS-CoV-2 Infektion getestet, die Symptome zeigten. Das gibt ein verheerendes, aber sicher falsches Bild der Sterblichkeit. Wir brauchen dringend repräsentative Stichproben auf Antikörperbasis, bevor eine potentielle zweite Welle kommt. September ist zu spät, viel zu spät! Ja, solche Tests kosten Geld, aber die öffentliche Hand kann das leicht finanzieren, im Vergleich zum Beispiel mit der Lufthansa-Rettung geht es hier um Peanuts. Es gibt viele Labors in Deutschland, die solche Studien jetzt schon machen können, wenn auch in etwas kleinerem Maßstab.

Im Netz tummeln sich verrückte Verschwörungstheoretiker. Es gibt aber auch andere grundsätzliche Kritik von erfahrenen Größen. Der Mikrobiologe Sucharit Bhakdi hält die Maßnahmen zum Beispiel für völlig überzogen. Für den Nicht-Wissenschaftler stellt sich die Frage: Wem sollen wir denn nun glauben?

Verrückten Verschwörungstheoretikern sollte am besten keiner zuhören. Allerdings: Unterschiedliche Standpunkte sind im Wissenschaftsbetrieb völlig normal. Je weniger wir über einen Sachverhalt wissen, desto kontroverser geht es in der Wissenschaft zu. Das erleben wir auch bei Corona – mit dem Unterschied, dass wir diese Meinungen jetzt nicht auf Fachkongressen und in wissenschaftlichen Zeitschriften diskutieren, sondern in den Medien. Natürlich beunruhigt das die Leute, weil sie daran nicht gewöhnt sind. Viele denken irgendwie, Wissenschaft sei absolut und immer sicher. Schon Schüler sollten lernen, dass unterschiedliche, sogar völlig konträre Standpunkte im laufenden Wissenschaftsprozess nicht die Ausnahme, sondern Normalität und außerdem höchst erwünscht sind. Es wäre gut, wenn die Jugendlichen schon in der Schule lernen würden, mit wissenschaftlicher Unsicherheit ohne Verunsicherung umzugehen. Wissenschaftler sind halt keine Götter in Weiß, die tasten sich auch nur langsam und mühsam an die Wahrheit heran.

Der Ex-Gesundheitspolitiker Wolfgang Wodarg (SPD) hält das Corona-Virus für kein großes Problem. Wenn man ihn konfrontiert mit der Frage, wo denn die vielen Toten in den Krisenregionen herkommen, sagt er: Die Krankenhäuser waren schon immer überlastet. Sollte man solche Aussagen wirklich ernst nehmen?

Die Krankenhäuser etwa in Italien sind in einem schlechteren Zustand als die deutschen. Man hat in so manchem Land das Gesundheitssystem fast kaputtgespart, weil sich Gesundheit rechnen muss, man hat die Reserven herausgespart, die jetzt dringend nötig wären, da hat Wodarg wohl nicht unrecht. Aber das kann nicht die einzige Ursache für diese katastrophalen Zustände sein. Sars-CoV2 ist hoch ansteckend und es gibt bei Risikogruppen eine sehr hohe Sterblichkeit. Daher ist mir Wodargs Aussage zu einseitig. Aber ich will bei den Kritikern die berechtigten Anfragen hören und nicht alles gleich verwerfen.

Auch die Zustände in New York City widersprechen seiner Ansicht. Hunderte Menschen sterben an der Krankheit – trotz Kontaktverbot. Wie kann man da sagen, Covid-19 sei nicht schlimmer als eine Grippe?

Tausende sterben. In New York City war es wohl vor allem die U-Bahn und eine schlechte Gesundheitsversorgung für benachteiligte Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel Schwarze, im Gegensatz zu vielen Weißen. 70 Prozent der Corona-Toten dort sind Schwarze. Bei einer Pandemie wollte ich nicht in den USA sein, es sei denn mit einer nicht-limitierten Kreditkarte für die Privatklinik. Eine echte Grippe ist übrigens kein Spaß. Mit einer Erkältung kann man Covid-19 natürlich nicht vergleichen, mit einem Influenza-Grippestamm der gefährlichen Sorte schon eher.

Die Plattform Euromo verzeichnet allerdings in den stark getroffenen Ländern starke Ausschläge bei den Todeszahlen, wenn auch nicht in Deutschland. Diese hohen Zahlen können nur mit der Pandemie erklärt werden.

Diese sogenannte Übersterblichkeit zeigt auf jeden Fall, dass SARS-CoV-2 für die Risikogruppen wie Alte und Vorerkrankte sehr gefährlich ist. Diese Gruppen müssen unbedingt geschützt werden. Dafür brauchen wir rationale und ethisch verträgliche Strategien, aber ohne massive Einschränkungen wird es nicht gehen.

Die starke Übersterblichkeit trotz der starken Maßnahmen belegt, dass SARS-CoV2 gefährlicher als ein Grippevirus ist.

Auch bei Influenza-Pandemien der kritischen Sorte gab es Übersterblichkeit. Es gibt gewisse epidemiologische Ähnlichkeiten mit Influenzaviren. Einige Publikationen beurteilen zum Beispiel auf der Grundlage des Vergleichs mit Influenza die Wahrscheinlichkeit einer zweiten und gar dritten Infektionswelle. Aber natürlich gibt es wichtige Unterschiede. Wir wissen noch nicht genug.

Die wichtigsten Unterschiede sind: Gegen Grippeviren gibt es Impfungen und Medikamente, gegen Sars-CoV2 noch nicht. Das neue Virus ist zudem infektiöser und verzeichnet eine höhere Sterblichkeit. Laut der eher optimistischen Heinsberg-Studie starben in Gangelt 0,36 Prozent der Infizierten, bei der Grippe sind es etwa 0,1 Prozent. Zeigt das nicht, dass SARS-CoV2 deutlich gefährlicher als Influenza-Viren sind?

Die Daten aus Heinsberg weisen auf eine höhere Sterblichkeit durch SARS-CoV-2 im Vergleich zu einem durchschnittlichen Influenza-Stamm hin, neueste Daten aus Schweden decken sich ganz grob mit Heinsberg. Ein Vergleich mit Influenza ist übrigens auch deshalb schwierig, weil man unterscheiden muss, über welchen Influenzastamm wir sprechen. Der Influenzastamm der Spanischen Grippe war ein brutaler Killer, vielleicht viel schlimmer als SARS-CoV-2, die aktuellen Influenzastämme vom Winter 2019/2020 waren eher „harmlos“, doch gab es in den letzten 50 Jahren immer wieder Influenzastämme, die eine sehr deutliche Übersterblichkeit verursacht haben. Es geht um das ganze Bild. Trotzdem brauchen wir dringend einen Corona-Impfstoff, aber der muss sicher sein.

In einer Umfrage unter Virologen Mitte Mai stimmten die Befragten überwiegend den Corona-Maßnahmen zu.

Jeder Virologe will Infektionen unbedingt verhindern. Also plädiert er aus virologischer Sicht für maximale Maßnahmen, das ist verständlich und eine wichtige Sichtweise. Eine andere ethische Frage: Welche Schäden dürfen wir in Kauf nehmen durch die Maßnahmen, die wir ergreifen? Ich fand es mutig, wie Wolfgang Schäuble vor einigen Wochen pointiert gesagt hat, dass wir nicht nur die Zahl der Toten sehen dürfen, sondern das ganze Bild. In unserem Land und in anderen Ländern. Wenn der Lockdown beispielsweise in anderen Ländern Millionen Hungertote zur Folge hätte, dürfen wir das nicht einfach vom Tisch wischen, bloß weil es nicht bei uns passiert. Die Situation ist extrem komplex, schwarz-weiß hilft nicht weiter.

Immer mehr Bürger misstrauen der Politik und den Medien, allen voran dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Sie suchen dann bewusst die Nähe zu sogenannten „unabhängigen“ Akteuren wie Bodo Schiffmann, der eigentlich eine Schwindel-Ambulanz leitet. Schiffmann hat sogar eine Bewegung mit dem Namen „Widerstand 2020“ gegründet. Können Sie diese Skepsis verstehen?

Ja. Die Geschichte lehrt mich, dass es gesund und wichtig ist, den Mächtigen bis zu einem gewissen Grad zu misstrauen. Obwohl wir als Christen unsere Regierung unterstützen, sollten wir nicht blauäugig sein. Auch das Misstrauen gegenüber Medien kann ich sehr gut verstehen, da gäbe es manches zu sagen. In Bezug auf die Corona-Krise berichteten sie m.E. sehr einseitig und sensationsgierig. Dadurch erzeugten und erzeugen sie Angst und Panik, das brauchen wir nicht. Ich finde es auch nicht gut, wenn Wissenschaftler und Bürger mit einer abweichenden „Corona-Meinung“ von den Medien herablassend behandelt werden. Als Bürger fordere ich vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine objektive, ausgewogene, nicht-emotionale Berichterstattung, die vermisse ich sehr, aber die könnten sie leicht liefern, weil sie vom Bürger Geld im Überfluss haben und nicht auf Quote angewiesen wären. Andererseits gibt es auch „unabhängige Akteure“, die mit Vorsicht zu genießen sind. Für den Laien ist die Situation echt problematisch.

In der oben zitierten Umfrage gab auch ein Drittel der Befragten an, sie sähen die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr. Teilen Sie diese Sorge?

Soweit würde ich noch nicht gehen. Ich empfinde es allerdings im Augenblick als schwierig, eine Position zu beziehen, die nicht medial genehmigt und politisch korrekt ist. Das gilt auch für Demonstrationen. Es muss doch für einen Politiker Alarmstufe Rot bedeuten, wenn so viele Menschen trotz der Verordnungen auf die Straße gehen. Wenn teilweise alle Demonstranten pauschal in die Ecke von Rechten und Verschwörungstheoretikern gestellt werden, läuft etwas grob falsch.

Und doch gibt es viele Verschwörungstheoretiker unter den Demonstranten, die auch völlig verschlossen für eine Diskussion sind. Welchen Kritikern sollte man Ihrer Meinung nach zuhören?

Ja, da gibt es auch abenteuerliche Gestalten. Wen sollte man nicht vom Tisch wischen? Ich frage zuerst nach der wissenschaftlichen Qualifikation. Da würde ich den Bonner Chefvirologen Prof. Hendrik Streeck nennen, den Regensburger Virologen Prof. Carsten Scheller oder die Berliner Virologin Prof. Karin Moelle. Auch dem Mainzer Infektionsepidemiologen Sucharit Bhakdi würde ich als einer stark formulierten Außenseiterposition zumindest sorgfältig zuhören. Wir brauchen unbedingt eine offene Diskussion.

Mehrere Faktenchecks legen nahe, dass Bhakdis Thesen, Covid-19 sei gar nicht so gefährlich, nicht stimmen. Er sagte zum Beispiel: „Wenn ein Virus nicht selbst tötet oder allein tötet, sondern nur im Verbund mit anderen Krankheiten, dann darf man dem Virus nicht die Schuld alleine in die Schuhe schieben.“ Diese Argumentation könnte man auch auf HIV beziehen – eine problematische Aussage.

Ja, vermutlich wären viele alte, vorerkrankte Patienten ohne SARS-CoV-2 Infektion noch am Leben. Damit war das Virus strenggenommen der Killer, auch wenn es „nur“ der berühmte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen bringt. Andererseits hat Bhakdi insofern recht: Das Virus hat nicht alleine die „Schuld“, denn trifft es beispielsweise auf einen jungen, gesunden Menschen, dann geschieht in vielen Fällen eben gar nichts, was ein sehr wichtiger Punkt ist.

Wenn zwei Wissenschaftler einander komplett widersprechen, müssen Politiker trotzdem handeln. Sie müssen abwägen zwischen dem Risiko vieler Toter und dem Risiko von Wirtschaftseinbrüchen. Eine Gratwanderung.

Ja, unsere Politiker waren im März wirklich nicht zu beneiden. Ich wünschte mir, dass alle Entscheider in der Politik öffentlich gesagt hätten: „Wir wissen nicht, ob unsere Entscheidung richtig ist oder nicht, aber wir müssen handeln und entscheiden in der gegebenen Situation jetzt eben so oder so. Wir werden die Entscheidung jedoch schonungslos überprüfen und revidieren, wenn sie falsch war“. Deutschlands Politiker haben einen bestimmten Weg eingeschlagen, und wir sollten uns als Bürger zunächst einmal dahinter stellen. Das ist ein Akt der Solidarität, die brauchen wir in Krisen. Wenn sich der Weg später als nicht optimal oder gar als falsch erweist, dann muss das ohne Schuldzuweisung schnellstmöglich revidiert werden. Wenn wir nun aber gar nicht mehr fragen sollen, ob und welche Fehler denn gemacht wurden und werden, dann gehen bei mir als Wissenschaftler und als Bürger einige rote Lichter an.

In der Corona-Krise haben die Verantwortlichen ihre Meinung mehrfach geändert, bei Schulschließungen, Maskenpflicht und der Notwendigkeit von Obduktionen zum Beispiel. Manche Bürger verloren dadurch das Vertrauen in den Staat. Schnell ist sogar von Lügen die Rede.

Einerseits wusste man anfangs, wie gesagt, zu wenig. Das Problem bei Masken und Schutzkleidung war allerdings ein anderes: Wir hatten schlicht keine. Die Bundesregierung hat sträflich vernachlässigt, unser Land auf eine Pandemie vorzubereiten, obwohl sie wusste, dass eine kommen könnte. Die Bundesregierung hat die Studie des RKI über das hypothetische „Modi-SARS“-Virus von 2013, die detailliert vor einer Pandemie warnte, einfach ignoriert. Es wurden nullkommanull Vorsorgemaßnahmen ergriffen, keine Schutzkleidung, keine Masken, viel zu wenig Desinfektionsmittel: keine Bevorratung. Damals hätten wir das alles aus der Portokasse bezahlt, aber unser Katastrophenschutz hat an dieser Stelle verheerend versagt und Corona hat uns daher komplett unvorbereitet getroffen. Das hat Menschenleben gekostet, darüber muss man reden und daraus müssen wir lernen. Konkret: Die Verantwortlichen hätten m.E. sagen können: Wir haben leider versäumt, Schutzmasken zu bevorraten, und jetzt haben wir keine, aber zum Schutz anderer hilft es sehr, wenn ihr wenigstens selbstgenähte Mund-Nase-Bedeckungen tragt. Natürlich war deren Fremdnutzen von Anfang an klar, das weiß jeder Chirurg.

Manche Christen deuten die Krise als Zeichen der Endzeit und die Eindämmungsmaßnahmen als Unterdrückung. In der Offenbarung steht, dass Seuchen die Erde heimsuchen werden – was können wir schon dagegen tun?

Ich teile nicht die Sorge mancher Bürger, auch von Christen, die auf Dauer um ihre Grundrechte fürchten, aber wir sollten durchaus ein scharfes Auge darauf haben, dass nach der Pandemie alle Einschränkungen komplett zurückgenommen werden.

Ich werde auch von Christen manchmal gefragt, was ich von Endzeitdeutungen halte. Zunächst: Ich glaube und hoffe, dass Jesus bald wiederkommt. Wir wissen aus dem Neuen Testament, dass das mit äußeren Zeichen verbunden sein wird. Jesus sagt: Achtet auf diese Zeichen der Zeit. Er sagt aber auch, dass wir nicht genau wissen, wann diese Zeit kommt.

Deshalb bin ich sehr vorsichtig. Ich denke zwar darüber nach, sage aber auch: Gott, du alleine weißt es. Er wird uns zur rechten Zeit auch die rechten Einsichten geben. Wenn es sich bei der Pandemie um endzeitliche Zeichen handelt, haben wir als Christen aber keinen Grund, Angst zu haben, weil wir wissen, dass Gott trotzdem im Regiment sitzt. Das ist mir sehr wichtig. Und: Nirgends lese ich in der Schrift, dass wir dann die Hände in den Schoß legen sollten. Selbst wenn wir im allerletzten Teil der Endzeit leben sollten, wäre es für uns Christen alternativlos, das Leid so stark wie möglich zu lindern.

Ist die Pandemie denn eine Seuche der Endzeit?

Das würde ich eher verneinen, aber ich weiß es letzlich nicht. Es gab in der Geschichte viel schlimmere Pandemien: die Pestwellen im Mittelalter, die Spanische Grippe 1918 mit 20 bis 50 Millionen Toten. Wir können Gott dafür danken, dass SARS-CoV2 nicht die Tödlichkeit des SARS-CoV-1 von 2003 oder gar des MERS-Virus oder sogar des Ebola-Virus hat. Vielleicht kommen wir nochmal mit einem blauen Auge davon. Gott helfe uns, dass wir daraus nicht nur epidemiologisch, sondern auch geistlich lernen.

Sie sind seit drei Jahrzehnten Professor für Mikrobiologie, und Sie gelten als Kritiker der Evolutionstheorie, vor allem der Makro-Evolution. Sie kennen sich also mit Minderheitenpositionen aus. Werden solche Meinungen in der Wissenschaft klein gehalten?

Minderheitenpositionen haben es immer und überall schwer, auch in den christlichen Gemeinden. In der Regel gewinnt in der Wissenschaft auf Dauer die richtige Position. Aber wer sie als Minderheit vertritt, hat es nicht leicht. Es ist jedoch nicht so, dass Minderheitenpositionen generell unterdrückt werden. Problematisch wird es erst dann, wenn neben wissenschaftlichen Fragen auch weltanschauliche Überzeugungen eine Rolle spielen. Bei der Diskussion um Schöpfung – Evolution geht es im Kern um weltanschauliche Fragen, um eine theistische gegen eine atheistische Weltsicht. Auf die Corona-Debatte lässt sich das nicht übertragen. Hier sind eher Angst und Panik mit im Spiel, vielleicht inzwischen auch politische Ambitionen, aber eher keine Weltanschauung.

Was wünschen Sie sich von der Politik?

Dass sie alle Fakten und Meinungen hört und sorgfältig analysiert, wo Entscheidungen angepasst oder auch ganz revidiert werden müssen. Außerdem wünsche ich mir, dass der Staat mehr Vertrauen in seine Bürger setzt, so blöd sind die Deutschen nicht. Da gibt uns Schweden ein Beispiel. Man kann nie alle überzeugen, aber wenn sich 95 Prozent freiwillig an die Empfehlungen halten, reicht das vielleicht schon, und wir können den „Blockwarten“ und „Bademeistern“ wehren, die derzeit mancherorts auftauchen. Wir sollten staatliche Vorgaben aber auch nicht übererfüllen. Wenn es zum Beispiel um Hygienemaßnahmen bei Gottesdiensten geht, halten wir uns als Christen daran – aber wir sollten nicht in vorauseilendem Gehorsam mehr tun als unbedingt nötig.

Vielen Dank für das Gespräch!

Siegfried Scherer (65) leitet den Lehrstuhl für Mikrobielle Ökologie am Department für Grundlagen der Biowissenschaften der Technischen Universität München. Er forscht über die Ökologie und Evolution von bakteriellen Krankheitserregern. Als einziger Wissenschaftler wurde er 2005 und 2016 zweimal mit dem Otto von Guericke Forschungspreis ausgezeichnet. Bis 2006 war er Vorsitzender der Studiengemeinschaft Wort und Wissen.

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