Meinung

Unsere Debatte ist kaputt

Deutschland zerfällt in Schwarz und Weiß. Offenbar haben wir verlernt, zu streiten. Stattdessen schreien wir das Gegenüber nieder. Ein Plädoyer für ein neues Miteinander.
Von Anna Lutz

Am zweiten Tag der Digitalkonferenz „Republica“ in Berlin passiert es. Auf einen Vortrag zum Thema Klimaschutz folgen Publikumsfragen. Ein Mann mittleren Alters tritt ans Mikrofon, bekräftigt die Sorge über die drohenden Folgen einer Klimakatastrophe und übt gleich harte Kritik an den Konferenzveranstaltern selbst: „Die ‚Republica‘ muss sich fragen, warum sie hier Feinde der Menschheit einlädt, nämlich Volker Wissing und Christian Lindner.“

Für diese Beschimpfung bekommt er lauten Applaus. Neben den beiden FDP-Politikern, Bundesverkehrsminister Wissing und Bundesfinanzminister Lindner, sind auch zwei Grüne bei der „Republica“: Familienministerin Lisa Paus und Wirtschaftsminister Robert Habeck. Sie fallen im Gegensatz zu ihren liberalen Kollegen für die hier Versammelten nicht in die Kategorie „Menschheitsfeind“. 

Einige Tage zuvor steht Olaf Scholz auf einer Bühne in der kleinen Stadt Falkensee bei Berlin. Er ist gekommen, um seine Parteikollegin Cornelia Nietsch-Hach (SPD) im Rennen um den Bürgermeisterposten zu unterstützen. Ob es ihr wirklich helfen wird, ist fraglich. Denn als Scholz auf der Bühne spricht, versteht er sein eigenes Wort kaum. Lautstark wird er ausgebuht, die Falkenseer brüllen „Kriegstreiber!“.

Scholz verteidigt die Unterstützung Deutschlands in der Ukraine, nennt den russischen Präsidenten Putin einen Mörder. Doch seine Argumente kommen nicht an. Die Massen sind nicht zu beruhigen.

Ähnlich erging es der grünen Außenministerin Annalena Baerbock am selben Ort einige Tage zuvor. „Volksverräterin“ nannte sie etwa einer der lautstarken Besucher der Grünen-Veranstaltung anlässlich der anstehenden Wahlen. Viele in der Menge applaudierten, es folgten „Baerbock muss weg“-Rufe.  

Gemeinsam gnadenlos

Für die einen richten FDP-Politiker die Menschheit zu Grunde, für die anderen verraten die Grünen die deutsche Seele. Zwischen beiden Haltungen liegen nur rund 20 Kilometer und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein.

Aber eines haben sie gemeinsam: Egal ob der Feind in Grün oder Gelb gesehen wird, das Urteil ist unumstößlich, indiskutabel, endgültig und ebenso gnaden- wie respektlos.

Der Feind ist identifiziert. Dialog unerwünscht. 

Es ist genau diese Haltung, die das Land derzeit durchzieht. Unversöhnlichkeit, Unwillen zur konstruktiven Auseinandersetzung, mangelnde Gesprächskultur.

Wer die Ukraine von Deutschland aus unterstützen möchte, ist ein Kriegstreiber. Wer Waffenlieferungen schwierig findet, ein unverbesserlicher Gutmensch. Man erinnere sich an die jüngste Debatte um Margot Käßmanns Pazifismus.

Wer für Robert Habecks prominent gescheitertes Heizungsgesetz argumentiert, kann sich unter Hausbesitzern nicht sehen lassen. Wer mit dem Flugzeug in den Urlaub nach Mallorca fliegt, sagt das lieber nicht zu laut auf dem Kirchentag oder der „Republica“. Für die Angst, zuzugeben, dass man mutmaßlich unnötig gefährliches CO2 freisetzt, gibt es sogar ein Wort: Flugscham. 

Egal ob es ums Gendern, Fleischkonsum, Klimaschutz, Angela Merkel, Sterbehilfe, Ukrainekrieg, Homöopathie, „Ehe für Alle“, Fahrradfahren oder Gasheizungen geht: Jedes halbwegs umstrittene politische Thema wird zur Glaubensfrage hochgejazzt. Und für die gilt bekanntlich: Nur der wahre Gläubige kommt in den Himmel. Die Hölle wartet auf jene, die die Wahrheit nicht anzunehmen bereit sind. Nur wer das ist und wie die Wahrheit aussieht, unterscheidet sich je nach Aufmerksamkeitsblase.

Medien und Politik befeuern Krise

Da hilft es keineswegs, dass Medien und Politik die Konflikte noch befeuern. Ja, man darf sich über das Heizungsgesetz der Ampel ärgern. Aber wer in den vergangenen Wochen vermehrt die „Bild“ las, konnte schnell das Gefühl bekommen, Habecks geheimer Plan sei es, demnächst über dem Bundesfinanzministerium die erste Massenvernichtungswaffe gebaut aus Heizelementen abzuwerfen.

Als ginge es ihm darum, die Republik zugrunde zu richten. Wer wirklich Sorge um seine alte Heizung haben möchte, der darf den Blick übrigens in Richtung EU weiten, da ist der Plan, fossile Brennstoffe schnellstmöglich abzuschaffen bereits wesentlich weiter gediehen als in Deutschland. 

Und schließlich darf in einem Text über Eskalation von Konflikten dieser Tage auch der Name Friedrich Merz nicht fehlen. Gendern in Nachrichtensendungen, Antirassismusforderungen, das „Gefühl, für Flüchtlinge sei immer Geld da“ und nicht zuletzt eine „penetrant vorgetragene Volkserziehungsattitüde“ der Grünen sei der Grund für ein Erstarken der AfD in neuesten Umfragen, so schrieb der CDU-Chef jüngst in seinem Newsletter.

Mit Verlaub, auch Oppositionspolemik muss ihre Grenzen haben. Besonders dann, wenn sie so offensichtlich Thesen der AfD aufgreift, um ebenjene Partei vermeintlich zu schwächen. 

Demokratie neu entdecken

Deutschland ist eskalationssüchtig geworden. Vielleicht liegt es an den zahlreichen Krisen, die jeden Bürger zu Recht beunruhigen sollten: Demokratiekrise, Finanzkrise, Klimakrise, Flüchtlingskrise.

Ja, die Lage ist ernst. Doch sie wird nicht besser durch permanente Konfrontation. Sie lässt sich lösen, durch konstruktives Miteinander. Links mit Konservativ. Schwarz mit Rot, Grün mit Gelb. Deutschland muss die Auseinandersetzung neu lernen.

An dieser Stelle sei zu guter Letzt ausgerechnet der so gescholtene Christian Lindner zitiert, der jüngst unter Buh-Rufen auf der „Republica“ einen Satz sagte, den wir uns alle neu hinter die Ohren schreiben müssen: „Das ist eben Demokratie!“

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