Ungeahnte Sensationsgier der Medien

Das Geiseldrama von Gladbeck hielt Deutschland im August 1988 in Atem. Das Geschehen veränderte nicht nur die Republik, sondern hatte auch Auswirkungen auf die Arbeit der Presse. Jetzt kommt wohl bald mit Dieter Degowski, einer der damaligen Täter, frei.
Von Johannes Blöcher-Weil
Eine unglaubliche Sensationsgier hat beim Geiseldrama in Gladbeck eine Rolle gespielt – und den Umgang der Medien mit solchen Situationen verändert

Am Morgen des 16. August 1988 überfallen Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner schwer bewaffnet eine Bank im nordrhein-westfälischen Gladbeck. Sie nehmen zwei Geiseln. Die Polizei jagt die Entführer quer durch die Republik und die angrenzende Niederlande. Die Jagd endet mit einer umstrittenen Polizeiaktion auf der A3 bei Bad Honnef. Am Ende des Geiseldramas gibt es drei Tote und viele Verletzte.

Einer der Täter, Dieter Degowski, hat seine lebenslange Haftstrafe nun verbüßt und soll mit einer neuen Identität wieder auf freien Fuß gesetzt werden. In der Kritik standen damals Politik, Polizei und die Medien. Die beteiligten Journalisten hatten die Täter interviewt, waren im Fluchtfahrzeug mitgefahren und hatten dadurch die Polizeiarbeit behindert. Die Vorgänge entfachten eine intensive öffentliche Debatte über Verantwortung und Grenzen des Journalismus.

Interviews mit Pistole am Kopf

Der Deutsche Presserat legte später fest, dass es Interviews mit Tätern während des Geschehens nicht geben darf. Nach der Busentführung standen die Entführer der Presse Rede und Antwort. Auch zwei Geiseln aus der Bank wurden von Reportern interviewt, während die Geiselnehmer ihnen die Pistole an den Kopf hielten.

In Köln umlagerten Journalisten das Fluchtauto mit den Straftätern sowie den Geiseln und führten Live-Interviews. Der spätere Bild-Chefredakteur Udo Röbel bot sich als Lotse an und fuhr von Köln bis Siegburg im Fluchtfahrzeug mit. Dabei wetteiferten zahlreiche Journalisten um die besten Bilder.

Pressekodex erweitert

Die Berichte und die Sensationsgier der Medienvertreter boten den Verbrechern eine bis dahin nie gekannte Bühne. Auch die Einsatzleitungen wurden wegen Organisationsfehler schwer kritsiert. In Bremen gelang Journalisten in einer unübersichtlichen Situation, die Freilassung von fünf Geiseln zu erreichen. Allerdings hielt ein Reporter den herabhängenden Kopf eines schwerverletzten Jungen noch einmal „fotogerecht“ in die Kamera.

Der Presserat verfügte danach, dass eigenmächtige Vermittlungsversuche nicht zu den Aufgaben von Journalisten gehörten. Auch Interviews mit Tätern dürfe es während des Geschehens nicht geben. Der Pressekodex wurde entsprechend erweitert. In einem Bericht der Süddeutschen Zeitung 20 Jahre nach der Geiselnahme bereuten einige beteiligte Journalisten ihr Verhalten öffentlich. Seit August 2009 erinnert eine Gedächtnisskulptur an das Geschehen auf der A3.

Von: Johannes Weil

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