Und dennoch stehe ich zu Europa

Die Begeisterung über das Friedensprojekt EU, über offene Grenzen und eine gemeinsame Währung ist längst einer Stimmung zwischen Ignoranz und Missmut gewichen. Europa? Das ist weit weg, sagen viele. Warum also am Sonntag wählen gehen? Eine Kolumne von Jürgen Mette
Von PRO
Der Theologe Jürgen Mette leitete viele Jahre die Stiftung Marburger Medien. 2013 veröffentlichte er das Buch „Alles außer Mikado – Leben trotz Parkinson“, das es auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte. Für pro schreibt er eine regelmäßige Kolumne.

„Ist das wichtig?“, fragt meine Frau, als ich sie bitte, die Briefwahlunterlagen anzufordern. Ich habe mir das abendfüllende ZDF-Europawahl-Spezial angeschaut, aber das hat bei mir nicht gezündet. Ich war zu müde. Europa ist auch müde, einfach nur müde. Es prickelt nichts mehr. Das Unterwegssein ohne Grenzkontrollen fällt uns kaum noch auf. Aber wenn der Grenzübergang Brenner auf dem Alpenhauptkamm mal eine Stunde schließen würde, dann ginge von Innsbruck bis Bozen nichts mehr.

Aber der einstige Europa-Hype hat sich gelegt. Das ätzende Brexit-Theater hat der Europäischen Union zugesetzt. Die deutschen Abgeordneten beschwören die Lage vor der Europawahl mit Superlativen: „Gewaltige, schwerwiegende, extreme Herausforderung.“ Selbst unsere Kanzlerin Angela Merkel verkörpert nicht mehr die putzmuntere Zuversicht für die EU. Ihre sonst in saftiger Dreifaltigkeit gewechselten Küsse mit Macron oder Juncker fallen immer flüchtiger aus. Rostet die alte Liebe?

Und was die neuen Feldherren Trump und Putin über Europa ausbrüten, weiß keiner so genau. Was die Weltwirtschaftsmacht China über unser putzig kleines Europa denkt, das möchte ich gar nicht wissen.

Die Griechen hätten von Anfang an die EU betrogen, frotzeln die tüchtigen Deutschen, die die Griechen für eine faule Siesta-Truppe halten, die lieber mittags im Schatten liegt, als mal richtig dranzubleiben und was wegzuschaffen. Das griechische Staatsdefizit lag 2017 bei 276 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Die Italiener, die aus deutscher Wahrnehmung auch mittags den Schatten suchen, wollen sich schamlos am EU-Topf bedienen (131 Prozent Staatsverschuldung 2017). Auf jeden Fall hat die deutsche Finanzhilfe gegenüber Griechenland viel Geld in unsere Kassen gespült. Die deutsche Staatsverschuldung lag 2017 bei 63,9 Prozent.

Gerechtigkeit statt Selbsterhöhung

Hat Helmut Kohl bei der Vision eines starken Europas übersehen, dass eine Währungsunion ohne eine bewusste Werte-Union nicht gelingen kann? Es gibt keine gemeinsamen Werte (mehr). Was man früher mit einem „Handschlag unter ehrbaren Kaufleuten“ vereinbart hat, das quält sich heute durch endlose Vertragstexte, weil man sich misstraut und von der Sorge getrieben wird, dass die Mafia überall mitmischt.

Das christliche Abendland ist kaum noch christlich. Die Kathedralen stehen noch trotzig im Wind, und wenn mal eine brennt, dann legen diejenigen am meisten Spenden zum Wiederaufbau zusammen, die die Kirche lediglich als Kulturgut betrachten.

Warum ich trotzdem ein überzeugter Europäer bin? Weil ich gerne an einem größeren Ganzen mitarbeite. Weil ich die Egozentrik der mühsam überwundenen Kleinstaaterei fürchte. Jeder hat sein eigenes Ding gedreht und die Selbsterhöhung Einzelner wurde in zwei Weltkriegen zur Katastrophe für alle.

„Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Menschen Verderben.“ (Sprüche 14,34).

Welche Partei, die sich jetzt zur Wahl stellt, „erhöht“ ein Volk, indem sie Gerechtigkeit gelobt und lebt? Nehmen Sie sich eine halbe Stunde Zeit und blättern durch die Programme der für das Europaparlament antretenden Parteien. Bleiben Sie sich und Ihrer Vorzugspartei treu, oder wagen Sie den Sprung aus dem Vertrauten ins Ungewisse einer Partei, die sie noch nie gewählt haben. Aber bleiben Sie nicht zuhause. Gehen Sie wählen. Europa ist es wert. Ich bin gern ein Europäer und gedenke nicht, mich dafür zu schämen.

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