Eine der wichtigsten Uhrzeiten in deutschen Wohnzimmern ist wahrscheinlich „20:15 Uhr“ – der Beginn vieler Spielfilme und Sendungen zur Hauptsendezeit im Fernsehen. Solche festen Zeiten der Mediennutzung haben den Alltag vieler Menschen strukturiert. Doch das verändert sich. Die jüngere Generation hat längst das Internet zum zweiten Fernsehprogramm gemacht: Über soziale Netzwerke und Plattformen wie YouTube, Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat und Co. werden Video-Clips angeschaut, kommentiert und geteilt. „Die kommende Zuschauergeneration wird kaum noch feste TV-Sendezeiten kennen“, sagt Timm Lutter vom Branchenverband Bitkom. „Über Mediatheken, Videoportale oder On-Demand-Angebote wird man sich sein eigenes TV-Programm im Internet zusammenstellen.“ Der Hamburger Medienwissenschaftler Stephan Weichert, der das Mediennutzungsverhalten der „Millennials“ aus den Geburtsjahrgängen 1981 bis 2000 untersuchte, stellt fest, dass das Fernsehen zwar nicht totzukriegen sei. „Es gibt aber ein starkes Bedürfnis, selbst zu bestimmen, wann sie was schauen wollen.“
Vier von zehn Deutschen haben ein Konto bei einem Video-on-Demand-Anbieter (Video nach Bedarf), ergab eine Studie im Auftrag des Verbands Deutscher Kabelnetzbetreiber (Anga) – vor einem Jahr waren es noch zwei von zehn. TV-Sendungen und Videos schauen sich 56 Prozent der Befragten auf ihren Smartphones, Tablets oder Notebooks an. Und jeder Zweite nutzt während des Fernsehens ein internetfähiges Endgerät (Second Screen).
Von den Internetnutzern im Alter zwischen 14 und 49 Jahren nutzen 91 Prozent Video-Stream-Dienste. Selbst unter den Älteren ist das weit verbreitet: 60 Prozent der 50- bis 64-jährigen und mehr als ein Viertel der über 64-jährigen Internetnutzer schaut Videos per Stream. Außerdem bietet das Internet dank Programmen wie OnlineTvRecorder oder der Online-Mediatheken der Rundfunksender die Möglichkeit, das normale Fernsehprogramm zeitversetzt zu schauen. Der Zuschauer muss sich nicht mehr an eine bestimmte Uhrzeit an bestimmten Tagen in der Woche halten, um seine Lieblingssendung zu sehen.
Wie der Branchenverband Bitkom herausfand, werden mit Video-on-Demand im Jahr 2016 rund 717 Millionen Euro umgesetzt. Das ist ein Plus von 24 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Kostenpflichtige Streaming-Plattformen wie Amazon Video, Apple iTunes, Google Play, Maxdome, Netflix, Sky Go oder Watchever fahren 2016 voraussichtlich Umsätze von 401 Millionen Euro ein.
Silicon Valley statt Hollywood Hills
Die großen Tech-Firmen, die erst durch das Internet wurden, was sie sind, geben sich längst nicht mehr zufrieden mit der Rolle des Übermittlers der Inhalte. Sie haben begonnen, selbst Filme und Serien zu produzieren. Großes Kino kommt künftig auch von Netflix, Amazon, Google und Apple. „Die interessanten Geschichten produziert heute nicht mehr Hollywood, die erzählen andere“, sagte Oscar-Preisträgerin Jodie Foster in Interviews zu ihrem neuen Film „Money Monster“. Immer mehr Produzenten gehen ins Silicon Valley anstatt nach Hollywood. Filmstar Kevin Spacey erreichte mit der Serie „House of Cards“ einen Höhepunkt seiner Karriere. Produziert wurde sie von Netflix, das ursprünglich mit dem Verleih von DVDs startete, dann Filme über das Internet verlieh – und nun auch selbst produziert. Ebenso wandte sich der Schauspieler Brad Pitt an Netflix, weil er mit seiner Serien-Idee in Hollywood nicht weiterkam.
Auch YouTube, das wohl bekannteste Videoportal, ist längst nicht mehr das Sammelbecken für verwackelte Handy-Filmchen von Katzen und Hamstern, als das es angefangen hat. Auf der Plattform tummeln sich schon heute nach eigenen Angaben mehr Nutzer im Alter von 18 bis 49 Jahren, als jedes Kabel-TV-Netzwerk in den USA Zuschauer hat. Und so mancher junge Videomacher kann sehr gut von YouTube leben. Das Unternehmen hat mittlerweile in mehreren Städten auf der Welt Studios errichtet, in denen Kanal-Anbieter Videos und sogar Live-Sendungen produzieren können.
In diesen „YouTube Spaces“, wie das Unternehmen sie nennt, können die YouTuber ihre Filme mit professioneller Ausrüstung herstellen und gleichzeitig in Workshops das nötige Handwerk lernen – YouTube hat ein Interesse daran, dass die Inhalte seiner Nutzer immer mehr an die Qualität von Studioproduktionen heranreichen und dabei immer noch jugendlich-frisch wirken. Dem Zuschauer das Gefühl zu geben, quasi weiterhin auf derselben Ebene mit dem Produzenten zu stehen, ist ganz wichtig.
In Berlin hat YouTube einen „Space“ auf einem Fabrikgelände in Tempelhof angemietet, nicht weit zum Ufa-Produktionsgelände. Deutsche YouTube-Kanäle mit Schmink- und Modetipps wie „Bibis Beauty Palace“ oder „Dagi Bee“ werden rund drei Millionen Mal angeklickt. Der erfolgreichste YouTuber der Welt ist PewDiePie, ein junger Schwede, der reich damit wurde, sich dabei zu filmen, wie er Videospiele spielt und das kommentiert. 44 Millionen schauen ihm dabei zu.
Auch Live-Übertragungen hat YouTube längst im Programm. Bisher in Deutschland nicht verfügbar, öffnet YouTube diesen Dienst nun auch für Nutzer hierzulande. Ein weiteres Angebot, YouTube Red, ermöglicht es Nutzern, für 9,99 Dollar im Monat Videos ohne Werbeunterbrechungen anzusehen – bisher allerdings noch nicht in Deutschland. Da YouTube zu Google gehört, verdrahten die Firmen auch ihr Musikangebot miteinander: Wer Google Play Music abonniert hat, bekommt Red kostenlos – und umgekehrt. Wie es heißt, verhandelt YouTube bereits mit Hollywood-Studios über Filmrechte für neue Serien und Filme.
Kein Abgesang aufs Fernsehen
Löst YouTube also das Fernsehen ab? Dominik Rudolph, der an der Universität Münster seine Doktorarbeit zu diesem Thema schrieb, ist skeptisch. Immerhin verbrächten die Menschen in der Freizeit immer noch durchschnittlich 327 Minuten täglich mit Fernsehen, weit mehr als mit jedem anderen Medium. 99,2 Prozent der Deutschen besitzen mindestens ein Fernsehgerät. Jeder YouTube-Nutzer besuche das Video-Portal dagegen im Schnitt nur 14 Mal im Monat und verbringe jeweils etwa 25 Minuten dort, das mache pro Tag weniger als 12 Minuten, schreibt Rudolph in seinem Buch „YouTube und Fernsehen: Konkurrenz oder Ergänzung?“.
Fast immer, wenn ein neues Medium auftauchte und ein wenig Erfolg hatte, wurde der Abgesang auf die althergebrachten Medien angestimmt. Bereits in der Frühphase des Internets sei das Ende des Fernsehens prognostiziert worden, sagt Rudolph. Als Weblogs aufkamen, sahen viele das Ende des klassischen Journalismus gekommen. Als die Videokassette eingeführt wurde, dachte man, sie verdränge das Kino. Mit der Erfindung des Kinos ging die Sorge einher, die Menschen würden nun nicht mehr ins Theater gehen. Schon Platon warnte, wer Bücher lese, schwäche sein Gedächtnis.
Die Nutzer haben sich mittlerweile an die Verfügbarkeit von filmischen Angeboten gewöhnt und verlangen sie zunehmend auch von den klassischen Fernsehsendern. Der ZDF-Intendant und Vorsitzende der ARD/ZDF-Medienkommission Thomas Bellut versicherte bereits im vergangenen Jahr: „Wir stellen uns auf die zunehmende Flexibilität des Publikums ein. Unsere Inhalte können zeitunabhängig und mobil genutzt werden. Am nächsten Relaunch unserer Mediathek wird bereits gearbeitet.“
Crossmediale Chancen
Das Internet hat im Vergleich zum Fernsehen mehrere Vorteile. Einer davon ist: Während bei den klassischen Medien, Print und Rundfunk, Ressourcen wie Druckfläche oder Sendezeit begrenzt sind, gibt es das im Internet nicht: Der Speicherplatz ist quasi unbegrenzt, jeder kann Inhalte ins Netz stellen, und jeder kann diese abrufen, wann immer er will. Daher ist das Angebot entsprechend bunter und vielfältiger. Aber es gibt eben auch keine Kontrollinstanz, keine Redaktionsleitung, die Inhalte etwa aus qualitativen Gründen ablehnt. Außerdem fällt im Internet die traditionelle Unterscheidung in Produzent und Rezipient weg. Man muss nicht erst eine Ausbildung durchlaufen haben, um Inhalte bei YouTube hochzuladen. Jeder Nutzer kann gleichzeitig auch Produzent sein.
Das Fernsehen hat seinen Zenit noch nicht überschritten, konstatiert Rudolph. Im Gegenteil, Medienforscher rechnen dem Medium gute Chancen für die Zukunft aus, manche sehen sogar eine Zunahme der Fernsehnutzung voraus. Die Zukunft könnte in einer „crossmedialen“ Nutzung liegen, also in der Vermischung beider Medien. Zum Beispiel konnte der Zuschauer während der Olympischen Spielen in Rio auf den Webseiten der öffentlich-rechtlichen Sender aus mehreren Live-Übertragungen auswählen, zur Fußball-EM gab es im Internet-Stream verschiedene Kameraperspektiven zur Auswahl; im normalen Fernsehprogramm von ARD und ZDF hingegen lief lediglich die übliche, von Redakteuren und Regisseuren zusammengestellte Übertragung.
Crossmedial würde auch bedeuten, dass YouTube über den Fernseher geschaut wird, etwa per App auf dem Smart-TV, per Apple TV oder den Google Chrome Stick. Fernsehsendungen könnten zudem viel mehr die Aktivitäten der User im Internet, etwa den Austausch auf Twitter und Facebook, einbinden. Auch könnten die Fernsehinhalte mehr über Mediatheken und YouTube online verbreitet werden. Fernsehen und Internet könnten sich durch parallele und zusätzliche Angebote ergänzen. Erste Experimente mit dem „Second Screen“ als ergänzendes Medium zum laufenden Fernsehprogramm gab es bereits.
Eine Liaison mit Perspektive
Wohin die gemeinsame Reise von Internet und Fernsehen gehen könnte, zeigt ein Deal, der im April in Amerika abgeschlossen wurde: Der Kurznachrichtendienst Twitter hat sich für angeblich zehn Millionen Dollar die Rechte für einige Football-Übertragungen gesichert. Im Oktober zeigte Twitter im Live-Stream ein Spiel zwischen den New York Jets und den Buffalo Bills und begeisterte immerhin rund 243.000 Zuschauer. Medien-Experten bescheinigten Twitter, dass dies dem Unternehmen bei seiner Positionierung als Live-Video-Plattform geholfen habe.
Die Verschmelzung von Internet und Fernsehen ist am deutlichsten bei Software zu sehen, die das Programm der Fernsehsender über das Internet streamt. Die Plattform HULU wird von großen amerikanischen Fernsehsendern betrieben, und sie zeigt deren produzierte Shows, Serien und Filme in voller Länge und in HD-Qualität. Die Plattform finanziert sich über Werbung. Die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland wollten vor fünf Jahren eine ähnliche Verbreitungsplattform mit dem Namen „Germany‘s Gold“ anbieten, doch das Bundeskartellamt monierte, dass der Nutzer dann neben den Rundfunkgebühren noch für einzelne Sendungen hätte zahlen müssen. Deshalb wurde daraus nichts.
Die privaten Sender haben eigene Videoportale ins Leben gerufen: ProSiebenSat.1 betreibt „Maxdome“, RTL die Videothek „RTL now“. Über die Software Zattoo können über 50 deutsche Free-TV-Sender per Internet gesehen werden. Seit dem 1. Oktober gibt es den neuen, gemeinsamen Jugendsender „Funk“ von ARD und ZDF – ausschließlich im Internet. Die gemeinsame Geschichte von Internet und Fernsehen – sie läuft. (pro)Auch freikirchlicher Pastor muss Rundfunkgebühren zahlen (pro)
Forum für Christen in Film und Fernsehen (pro)