Umbarmherzig und ohne Gott

Der stellvertretende Chefredakteur des "Handelsblatts", Michael Inacker, hat in einem Leitartikel den Umgang mit dem deutschen Spitzenpersonal kritisiert – und dabei einen Grund für die "unbarmherzige" Kritik genannt: der Verlust traditioneller religiöser Werte.
Von PRO

"Unbarmherziger Absturz" – so bezeichnet Inacker von der Tageszeitung "Handelsblatt" den Umgang mit Politikern und Top-Verdienern, deren Fehlverhalten "zur Vernichtung von Ruf und beruflicher Existenz" geführt habe. Gerade die jüngste Vergangenheit habe gezeigt, wie die Gesellschaft auf Fehler von Politikern wie Karl-Theodor zu Guttenberg und Christian Wulff, Vorstandschefs wie Heinrich von Pierer oder Investment-Banker wie Dirk Notheis reagiert: unbarmherzig.

Stürzten "strahlende Persönlichkeiten" aus Wirtschafts- und Politikkreisen ab, dann meist endgültig und ohne Möglichkeit zur Rückkehr. Zwar liege den Skandalen der jüngsten Vergangenheit konkretes Fehlverhalten zugrunde, jedoch könne kaum von einem "Kapitalverbrechen" die Rede gewesen sein. "Aber rechtfertigt dieses Fehlverhalten die teilweise zu beobachtende verbale Hinrichtung?", fragt Inacker. Ein Rücktritt sei als "Bestrafung" nicht mehr ausreichend, die Regel sei vielmehr der dauerhafte Ausschluss von allen öffentlichen Ämtern und Funktionen.

Kollektiver Erregungszustand, keine Barmherzigkeit

"Wir sind eine Gesellschaft ohne Fehlertoleranz und ohne Barmherzigkeit geworden", schreibt Inacker in seinem Leitartikel. "Wir sind eine Gesellschaft, die jederzeit in kollektiven Erregungszustand versetzt werden kann und dabei die Verhältnismäßigkeit aus dem Blick verliert." Als möglichen Grund nennt der Leiter des Handelsblatt-Hauptstadtbüros den Verlust der traditionellen religiösen Werte. "Es mag überraschend klingen: Aber eine Gesellschaft ohne Gott ist eine Gesellschaft ohne Barmherzigkeit."

In seiner Argumentation bezieht sich Inacker unter anderem auf den Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde. Laut des Staatsrechtlers lebt eine Demokratie von Voraussetzungen, die sie selbst nicht geschaffen hat und die der religionsneutrale Staat nicht vorgeben kann. Böckenförde hat sich damit auf das religiöse Fundament der Gesellschaft bezogen, das ihr wichtige Werte und Normen gibt.

Wenig Chance auf Rehabilitierung

"Heute verschwenden wir diesen Schatz", stellt Inacker fest. "Wir verkaufen unsere christlich geprägte Sozialisation und ersetzen diese Moral und den von ihr geprägten gesunden Menschenverstand durch die Dominanz der großen Rechtsanwaltskanzleien", so der "Handelsblatt"-Journalist. "Es sind Rechtsfabriken, die dann in Politik und Unternehmen Verhaltensregeln einführen. Sie schaffen damit neue Wertegebäude, in denen für den Faktor Mensch nur noch wenig Platz bleibt."

Wer also in Ungnade falle, habe kaum Chancen auf Rehabilitierung. Das Prinzip der Gnade sei in entsprechenden Fällen nicht von Bedeutung, hält Inacker fest. "Eine christliche Gesellschaft weiß um die Fehlbarkeit des Menschen. Sie will nicht den Übermenschen, sondern setzt auf Reue und Vergebung." Im Christentum jedoch folge auf Reue eine zweite Chance. Heute sei Bestrafung jedoch lebenslänglich und unverzeihlich. "Einer Gesellschaft mit fehlender Wertebasis fehlt nicht nur ein Kompass, sondern auch die Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln", betont der "Handelsblatt"-Redakteur. Nur durch die Möglichkeit des erfolgreichen Scheiterns könne ein Mensch Verantwortung übernehmen. (pro)

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