Türkei: Referendum mit Tücken

Das türkische Volk hat entschieden: Laut einem Referendum von Sonntag soll die Gesetzgebung am Bosporus grundlegend überarbeitet werden. Für die verfolgte Minderheit der Christen im Land könnte das ein Freiheitsschlag sein – oder das Gegenteil.

Von PRO

Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung – ganze 58 Prozent der Bürger – hat sich Medienberichten zufolge am Sonntag für eine umfassende Verfassungsänderung ausgesprochen. Nun sollen 26 Reformvorhaben der Regierung um Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan umgesetzt werden. Die seit dem Putsch von 1980 mächtigen Militärgerichte sollen künftig nur noch Fälle aus ihrem Bereich verhandeln und dürfen nicht mehr über Zivilisten urteilen. Verfahren wegen Verstößen gegen die Staatssicherheit und die Verfassung werden von zivilen Gerichten übernommen. Einzelpersonen sollen erstmals selbst das Verfassungsgericht anrufen können.

Doch auch das Parlament erhält mehr Macht: Zu den umstrittensten Veränderungen zählt laut der Nachrichtenagentur "Reuters" die Reform des Verfassungsgerichts, das gemeinsam mit dem Militär als Hüterin des säkularen Charakters des Landes gilt. Das Parlament erhält mehr Einfluss bei der Bestellung von Richtern, der Kreis der in Frage kommenden Kandidaten für die wichtigsten Posten wird vergrößert, ihre Amtszeit auf zwölf Jahre beschränkt. Der als islamisch-konservativ geltende Staatspräsident Abdullah Gül soll das Recht erhalten, vier der Verfassungsrichter direkt zu benennen. Die Opposition wirft Regierungschef Erdogan deshalb laut dem Sender "Deutsche Welle" vor, er wolle vor allem die Justiz unter seine Kontrolle bringen. Die angestrebte Reform sei ein weiterer Versuch der konservativ-islamischen Kräfte, die weltliche Ausrichtung der Türkei zu untergraben und den Einfluss der Religion zu stärken, hieß es weiter.

"Das könnte für Christen schwierig werden"

Daniel Ottenberg, Leiter des Referats Menschenrechte bei der christlichen Organisation "Open Doors", bestätigt dieses Problem gegenüber pro: Das türkische Verfassungsgericht sei bisher eher säkular ausgerichtet gewesen. Gül gelte als nicht neutral und könne verstärkt konservative Richter berufen. "Das könnte für Christen schwierig werden", sagt Ottenberg. Dennoch gewinnt er der geplanten Reform auch Positives ab: "Die Kräfte des Militärs werden weiter zurückgedrängt", sagt er und erklärt, dass das Militär immer eine einheitliche Türkei gewollt habe. Deshalb seien Christen oft nicht geduldet worden. "Als Türke ist man eben Moslem", sagt Ottenberg.

Auch, dass Einzelpersonen bald das Verfassungsgericht anrufen könnten, ist in seinen Augen ein Fortschritt, allerdings mit Einschränkungen: "Inwieweit das nur auf dem Papier steht, ist eine andere Frage", sagt er und verweist auf die derzeit in Malatya laufenden Verhandlungen gegen die mutmaßlichen Mörder dreier Christen im Jahr 2007. Auch drei Jahre nach der Tat sei eine Verurteilung noch in weiter Ferne, der Prozess werde immer wieder vertagt. "Das ist für alle Beteiligten belastend, besonders für die Angehörigen der Opfer", sagt Ottenberg.

Während Außenminister Guido Westerwelle (FDP) sich erfreut über den Erfolg des Referendums äußerte und es einen "weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg der Türkei nach Europa" nannte, fand EU-Erweiterungskommissar Stefan Fuele jüngst eher kritische Worte: Die EU werde die Umsetzung der Verfassungsänderungen sehr genau beobachten, zitiert ihn "Reuters". Zugleich fordere Fuele, dem Referendum müssten weitere Reformen bei den Grundrechten wie etwa der Meinungs- und der Religionsfreiheit folgen.

Dem stimmt auch Ottenberg zu. Nach wie vor seien die drängendsten Probleme für Christen in der Türkei ganz grundlegender Natur. Noch immer dürften christliche Geistliche keinen Nachwuchs ausbilden. Klöster, Kirchen und zugehöriges Land seien zudem im Staatsbesitz. Christen haben in der Türkei kein Recht an ihren Gotteshäusern oder Grundstücken. (pro)

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