Teenager mit Waffen, und der moralische Kompass in Amerika kreiselt

Etwas ist faul in den Vereinigten Staaten. Und da besonders unter manchen „evangelikalen Christen“. Das zeigt erneut der Fall des 17-jährigen Jugendlichen Kyle Rittenhouse, der zwei Menschen auf offener Straße erschoss – und nun scheinbar ausgerechnet von Christen Unterstützung findet. Ein Kommentar von Jörn Schumacher
Von Jörn Schumacher
In den USA geht die Spaltung voran. Für den 17-jährigen Todesschützen Kyle Rittenhouse wird auf einer christlichen Webseite Geld gesammelt – für seinen Gerichtsprozess.

Es ist der Abend des 25. August. In dem Städtchen Kenosha im US-Bundesstaat Wisconsin protestieren weiter Menschen auf der Straße gegen die unverhältnismäßige Gewalt von Polizisten gegen Schwarze. Erst zwei Tage zuvor wurde in dieser Stadt der 29-jährige Jacob Blake von Polizisten bei einem Einsatz angeschossen. Die Polizeibeamten waren zu einem Streit zwischen mehreren Frauen auf dem Bürgersteig gerufen worden, Blake versuchte offenbar zu schlichten, geriet aber in den Streit und es kam zu einem Auseinandersetzung mit der Polizei, bei der Blake auch getasert wurde. Blake ging dann im Schritttempo zurück zu seinem Wagen, und als er die Fahrzeugtür öffnete und auf die Aufforderungen der Polizisten nicht reagierte, schossen ihm die Polizisten siebenmal in den Rücken. Drei Söhne des Amerikaners saßen dabei im Auto und mussten alles mit ansehen. Blake kämpft derzeit im Krankenhaus um sein Leben.

Derartige unverhältnismäßige und völlig unnötige brutale Gewalt gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe ist der Grund für die zahlreichen Demonstrationen auf den Straßen Amerikas. US-Präsident Donald Trump hingegen nennt die Demonstranten „linke Anarchisten“ und „Terroristen“.

Bei einer der Demonstrationen in eben jenem Kenosha zeigte sich ein Phänomen, vor dem ein Rechtsstaat eigentlich bis ins Mark Angst haben sollte, das in Amerika jedoch sogar noch unterstützt wird: Junge Männer, oftmals sogar Teenager, haben sich von irgendwo eine Waffe besorgt und „helfen“ der Polizei dabei, für Ruhe und Ordnung zu suchen.

So ein selbsternannter Cowboy im Alter von 17 Jahren ist Kyle Rittenhouse, der in die Schlagzeilen geraten ist. Die Augenzeugenberichte bei der Polizei ergeben dieses Bild: Am Dienstag um 23.45 Uhr Ortszeit ging Rittenhouse über die Straße mit einem Gewehr des Typs „Smith & Wesson AR-15 .223“. Der Jugendliche geriet mit einem Mann namens Joseph Rosenbaum zusammen. Zeugen berichten, Rittenhouse habe auf Rosenbaum geschossen und sei dann davongelaufen. Rosenbaum erlag am nächsten Tag seinen Verletzungen. Um 23.46 Uhr rief Rittenhouse einen Freund an und sagte ihm: „Ich habe eben jemanden getötet.“ Es gibt ein Video, das zeigt, was danach geschah: Rittenhouse wird von Demonstranten, die ihn stoppen wollen, verfolgt. Sie rufen: „Nehmt diesen Typen fest! Er hat jemanden erschossen!“

Kurz nach der Erschießung geht Rittenhouse mit erhobenen Armen auf die herannahenden Polizeiwagen zu, das Gewehr auf dem Rücken. Doch die Polizisten denken gar nicht daran, den Schützen auch nur zu beachten. So als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass ein junger Mann mit langem Gewehr durch die Straßen wandert und Menschen erschießt.

Jugendliche Waffennarren helfen der Polizei

Kurz vor der Tötung hatte ein Journalist den jugendlichen Schützen interviewt. In dem Video wird klar, dass es sich nicht um einen harmlosen Teenager handelt, der sich in die Szenerie verlaufen hat. Rittenhouse sah es als seine Aufgabe an, mit seiner Waffe für Ordnung zu sorgen. „Menschen werden verletzt. Unsere Aufgabe ist es, Menschen zu schützen“, sagt er zur Begründung, warum er mit einem Gewehr durch die Gegend laufe.

Auf dem Video vom weiteren Verlauf des Vorfalls ist zu sehen, wie sich ein Mann Rittenhouse mit einem Skateboard nähert und ihm das Gewehr abnehmen will. Doch Rittenhouse schießt auch auf diesen Mann, der bricht zusammen und fällt auf den Boden. Daraufhin richtet sich Rittenhouse zur anderen Seite und richtet sein Gewehr auf eine weitere Person und schießt ihr in den Arm.

Rittenhouse war aus seinem Wohnort Antioch im Nachbarstaat Illinois ins 32 Kilometer entfernte Kenosha gekommen, um mit seinem Gewehr zu „helfen“. Nun ist er wegen Mordes zweier Menschen („first-degree intentional homicide“) angeklagt sowie wegen des Besitzes einer schweren Waffe im Alter von unter 18 Jahren.

Rittenhouse ist ein ehemaliges Mitglied eines Programms der Polizei für die Ausbildung von Jugendlichen, die sich für Waffen interessieren. Der Jugendliche war offenbar zuvor auf einer Trump-Wahlkampfveranstaltung in Iowa, wie seinen Einträgen in den Sozialen Medien zu entnehmen ist. In seinen Profilen von Facebook und TikTok schrieb Rittenhouse in das Info-Feld: „Blue Lives Matter.“ Dabei handelt es sich um eine Gegenbewegung zu „Black Lives Matter“, die Gewalt gegen Polizisten verurteilt und härtere Bestrafung dafür fordert. Der Name kommt von den blauen Uniformen der Polizisten in den USA.

Wahlkampfhilfe von schießwütigen Weißen

Rittenhouse habe in Notwehr gehandelt, bilanzierte der US-Präsident am Montag im Weißen Haus vor Journalisten. „Er wäre getötet worden.“ Donald Trump nannte die Erschießung bloß „eine interessante Situation“. Offenbar habe Rittenhouse versucht, wegzulaufen, sei dann aber von den anderen Menschen „gewaltsam attackiert“ worden. Was Trump nicht weiß oder sagen wollte: Der Junge hatte zuvor bereits auf Demonstranten tödliche Schüsse abgefeuert. Von Trump war keine allgemeine Verurteilung von Gewalt zu hören; sein Herausforderer Joe Biden verurteilte indes sowohl die gewalttätigen Ausschreitungen bei Demonstrationen, als auch die mutmaßlichen Taten von Rittenhouse.

Er wolle die Stadt Kenosha am Dienstag besuchen, kündigte Trump an. Doch nicht etwa, um die Angehörigen der Opfer zu besuchen, die der Teenager hinrichtete. Vielmehr möchte er sich mit Polizisten treffen und sich Schäden ansehen, die durch die Demonstration entstanden sind. Sowohl der Bürgermeister von Kenosha, als auch der Gouverneur von Wisconsin baten Trump, nicht zu kommen. Doch: keine Chance. Es ist Wahlkampf. Aber auf welcher Seite führt Trump da eigentlich Wahlkampf? Trump hatte zuvor nämlich ebenfalls betont, er wolle auch nicht die Familie des angeschossenen Schwarzen Jacob Blake aus Kenosha besuchen. Trump fügte hinzu: „Aber ich werde mit dem Pastor der Familie sprechen.“ Eine kleine Geste, die bei der frommen Wählerschaft vielleicht ankommt.

Beim Parteitag der Republikaner ließ sich Trump vergangene Woche ausgerechnet vom Ehepaar Mark und Patricia McCloskey aus St. Louis hochleben. Die beiden erlangten Bekanntheit durch ein Video, auf dem sie zu sehen sind, wie sie sich im Juni vor ihrem Anwesen aufstellen. An ihrem Haus zogen Teilnehmer einer Demonstration vorbei, die anlässlich der brutalen Erdrosselung des schwarzen George Floyd durch das Knie eines Polizisten durchgeführt wurde. Die McCloskeys bedrohten die Vorbeiziehenden mit ihren Schusswaffen, hasserfüllt, voller Panik und offenbar wirklich davon überzeugt, die schwarzen Demonstranten würden ihr Haus plündern wollen. Sie prägten das moderne Bild von weißen Republikanern, die Angst haben, dass die gewaltsamen Schwarzen immer mehr das Land der Weißen erobern. Das Ehepaar McCloskey ist inzwischen angeklagt wegen widerrechtlichem Gebrauch von Waffen. Bei Trump sind sie Wahlkampfhilfe.

Christen sammeln Geld für Todesschützen

Auf der christlichen Spenden-Webseite „Give Send Go“ wird nun für die Unterstützung des jugendlichen Attentäters in seinem Kampf vor Gericht Geld gesammelt. Eine Gruppe namens „Friends of the Rittenhouse family Atlanta“ bat um 200.000 Dollar. Schon nach kurzer Zeit war das Ziel erreicht, und das Geld fließt weiter: Mittlerweile hat das Spendenaufkommen weit über 300.000 Dollar erreicht. „Evangelikale sammeln Geld für die Verteidigung des mutmaßlichen Todesschützen“, schreibt da das deutsche Wochenmagazin Die Zeit.

Die Betreiber der Website „Give Send Go“ geben als Motto ihrer Webseite an: „Die wertvollste Währung ist Gottes Liebe. (…) Gott wird immer größer sein als alles Geld.“ Es erreichten sie inzwischen Hunderte E-Mails, in denen gegen die Spendenaktion für Rittenhouse protestiert wird. Ebenso wie bei anderen bekannten weltlichen Spenden-Websites wie GoFundMe und Fundly, auf denen Kampagnen für den jugendlichen Schützen liefen. Letztere haben ihre Kampagnen für Rittenhouse inzwischen eingestellt. Das christliche Pendant denkt gar nicht daran. Jacob Wells, Mitbegründer der Website, verteidigte gegenüber dem Religion News Service (RNS) die Spendenaktion: „Wir sind nicht der Richter, das ist Gott. Wir werden es einfach ihm überlassen.“

Auf Twitter hingegen zeigen sich die Betreiber stolz: „Wir sind die einzige Plattform, der eine Kampagne für Kyle Rittenhouse erlaubt wird.“ Und in einem anderen Tweet schreiben sie genauso stolz: „GiveSendGo ist eine Plattform, die von Veteranen betrieben wird, die nicht der Zensur und der Cancel Culture zum Opfer gefallen ist!“ Was ihn allerdings vor allem störe, sei der harsche Tonfall in den Protest-Mails gegen ihn, sagte der Betreiber von „Give Send Go“. Das ist auffällig: Sobald es ums Fluchen geht, hört der Spaß bei frommen Amerikanern auf. In Videos von den Schießereien, die im Umlauf sind, haben die Medienanstalten jedes Schimpfwort mit einem Piep-Wort überlegt. „Fuck“ darf man in Amerika auf keinen Fall öffentlich sagen, aber zu zeigen, wie Menschen abgeschossen werden, ist offenbar weniger ein Problem.

Der Anwalt von Kyle Rittenhouse veröffentlichte am Samstag ein Statement zum Fall seines Klienten. Es ist ihm dabei nicht zu blöd, ebenfalls Gott mit ins Spiel zu bringen. „Rittenhouses Absicht war es nicht, Gewalt zu entfachen, sondern einfach zu verhindern, dass Schaden an Eigentum entsteht“, heißt es in der Stellungnahme. „Kyle tat nichts Falsches. Er übte sein von Gott gegebenes, verfassungskonformes Recht zur Selbstverteidigung aus.“

„Nichts Falsches getan“ angesichts eines Teenagers, der zwei Menschen umbrachte und einen dritten verletzte, spiegelt das Chaos wider, in dem sich die USA befinden. Und in dem viele Evangelikale keine Orientierung mehr zu haben scheinen. Trump sagte in seinem ersten Wahlkampf vor fünf Jahren, er mache nie etwas falsch und brauche sich deswegen auch nicht vor Gott zu verantworten. „Ich bin Protestant. Ich bin Presbyterianer. Und ich gehe zur Kirche und ich liebe meine Kirche.“ Auf die Frage, ob er Gott schon mal um Vergebung gebeten habe: „Ich denke nicht, nein. Wenn ich etwas falsch mache, versuche ich es einfach besser zu machen. Ich bringe Gott da nicht mit hinein.“ Auch nicht, wenn er beim Abendmahl sei, da trinke er seinen „kleinen Wein“ und esse die „kleinen Cracker“, damit sei es aber auch gut.

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