Tatort: Sekten im Fadenkreuz

Schon vor der Ausstrahlung des ersten Tatorts nach der Sommerpause sorgte die Schweizer Folge für Aufsehen: Im freikirchlichen Milieu spiele sich der Plot ab, hieß es. Das stimmt zwar, Evangelikale müssen sich dennoch nicht sorgen, dass sie im Krimi schlecht wegkommen. Ein Kommentar von Anna Lutz
Von PRO

„Wie konnte so etwas in dieser strenggläubigen Gemeinde passieren?”, fragt die ARD in einer Programmankündigung und wirbt damit für die Tatort-Folge „Geburtstagskind”, die am Sonntag zu sehen war. Denn ausgerechnet im „freikirchlichen Umfeld”, wie es in diversen Presseberichten der vergangenen Woche hieß, geschieht im Plot von Autor Moritz Gerber und Regisseur Tobias Ineichen der Mord an einem 14-jährigen Mädchen. Amina (Carla Chiara Bär), so finden die Schweizer Ermittler Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) schnell heraus, war zum Todeszeitpunkt im dritten Monat schwanger. Sie gehörte, ebenso wie ihr Stiefvater Beat (Oliver Bürgin) und ihre Mutter Ursula (Sarah Spale Bühlmann), einer strenggläubigen Gemeinschaft namens „Der Kreis der Gnade” an.

Wer befürchtet hat, der Tatort nutze das religiöse Umfeld der Handlung dazu, freikirchliche Gemeinschaften als solche zu diffamieren, kann beruhigt tief durchatmen. Zwar zeigen die Macher den tiefreligiösen Vater als verschrobene bis fanatische Figur, klar wird aber auch: Die Gruppe, in der er sich bewegt, hat mit dem Durchschnitt der evangelikalen Gemeinden wenig gemein.

Bekreuzigung und Totengebet

Zwar erfährt der Zuschauer über den „Kreis der Gnade” nur wenig, ein paar Hinweise darauf, womit er es hier zu tun hat, gibt es aber doch: So weist der Vater, nachdem er von der Schwangerschaft seiner verstorbenen Tochter erfahren hat, verwirrt darauf hin, dass sie ausschließlich Kontakte innerhalb der Gemeinde gehabt habe – was wohl eher Wunsch als Wahrheit entspricht, wie die folgende Handlung zeigt. Zudem entpuppt sich das Oberhaupt der Familie als eine Art Anführer der Jesus-gläubigen Gemeinschaft, der in seinem holzverarbeitenden Betrieb einen Großteil der Mitgläubigen angestellt hat. Als er eines Morgens die Werkstatt betritt und ahnt, dass die Mitarbeiter über ihn tuscheln, ruft er sie zum gemeinsamen Gebet zusammen. Auch bei der Beerdigung der Tochter ist er es, der die Predigt hält.

Bezüge zur Bibel gibt es im Handeln der Gemeinschaft nicht. Zwar ruft Beat in einer Szene auf der Straße zum Glauben an Jesus Christus auf, ansonsten spricht die Gemeinschaft selbst erfundene Gebete, nach denen sich jeder einzeln bekreuzigt, die Geste aber mit einer Kreisbewegung der Hand um die eigene Mitte beendet – als Zeichen für die Gemeinschaft der Gläubigen untereinander. Als die Ermittler dem Vater seine tote Tochter zur Identifikation zeigen, muss er zunächst würgen, fasst sich dann aber wieder und spricht ein Gebet für die Tote.

„Soll halt jeder glauben, was ihm hilft”

Das alles erinnert selbst mit viel Fantasie nicht an gängige Freikirchen, lediglich der Bezug zu Jesus Christus bildet eine Gemeinsamkeit. Stattdessen hat der Autor gängige Merkmale einer Sekte aufgegriffen und sie ins Zentrum der Charakteristik gerückt: Die Gemeinschaft bleibt unter sich und grenzt sich nach außen ab. Offenbar sind strenge Lebensregeln an die Mitgliedschaft geknüpft, auch wenn der Zuschauer nicht mehr erfährt. Die Gemeinde hat eine klare Hierarchie und folgt einer zunächst charismatisch scheinenden Führungspersönlichkeit. Einen interessanten Nebenschauplatz bieten im Übrigen die unterschiedlichen Ansichten der Ermittler zum Thema Religion. Während die Frömmigkeit des bald tatverdächtigen Vaters Flückiger wütend werden lässt, kommentiert Ritschard das Geschehen gelassen mit dem Satz: „Soll halt jeder glauben, was ihm hilft.”

Trotz des zunächst interessant wirkenden Plots enttäuscht dieser Tatort ansonsten auf ganzer Linie. Die Figuren und Dialoge wirken allzu konstruiert, spätestens als der Stiefvater im unehelichen Geschlechtsverkehr der Tochter letztendlich dämonische Besessenheit zu sehen glaubt, kann der Zuschauer diesen Tatort nicht mehr ernst nehmen. Ähnlich kommentiert die Tageszeitung Die Welt diese Folge: „Nun kann man ja gegen Sekten, gegen christliche Fundamentalisten haben, was man will, es gilt auch die Freiheit der Religionskritik – ein bisschen charmant darf sie aber schon sein und Esprit darf sie haben und Originalität. Nichts davon hat sie in ‚Geburtstagskind’.”

Religionskritik, ja, bitte!

Sorge oder gar Protest seitens evangelikaler Gruppen zu diesem Tatort ist ebenso unnötig wie unangebracht. Stattdessen sollten christliche Gruppen sich eingestehen: Es gibt durchaus eigenartige bis gefährliche Sekten, die sich wie wir auf Jesus Christus beziehen. Solche Gemeinschaften dürfen und müssen kritisiert werden – auch und gerade im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. (pro)

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