Studie fordert: Christen sollten offener über Sex reden

Über Sexualität gibt es unter Christen ganz unterschiedliche ethische Auffassungen. Das zeigt eine umfangreiche Studie. Gemeinden sollten das anerkennen – und statt auf einer einseitigen Lehre zu beharren, offener über Sex reden, so das Fazit.
Von Jonathan Steinert
Kuss, Sexualität

Christen in Deutschland haben sehr unterschiedliche Ansichten zu Sexualität. Eine Studie des Forschungsinstituts „emipirica“, das zur CVJM-Hochschule in Kassel gehört, hat das in einer umfassenden Studie detailliert herausgearbeitet. 10.000 Christen, die sich als religiös oder hochreligiös einstufen lassen, aus verschiedenen Konfessionen und Denominationen haben daran teilgenommen.

Einige Einstellungen werden von deutlichen Mehrheiten geteilt: So stimmen 68 Prozent zumindest tendenziell der Aussage zu, dass Gott sich freut, wenn Menschen ihre Sexualität auf vielfältige Art erforschen. Eine fast ebenso große Mehrheit ist der Ansicht, dass Gott den Menschen klare Regeln für den Umgang mit Sexualität gegeben hat, damit kein Schaden entsteht. Zwei Drittel halten Selbstbefriedigung für eine angemessene Art, mit den eigenen sexuellen Bedürfnissen umzugehen. Ebenso viele sind der Ansicht, dass ausgelebte Homosexualität keine Sünde ist.

Bei anderen Fragen weisen die Ergebnisse eher auf gegensätzliche, etwa gleich große Lager unter den Christen hin. Das betrifft etwa die Bedeutung der Ehe für die Sexualität: Während eine Hälfte findet, man sollte mit dem Geschlechtsverkehr bis zur Hochzeit warten, ist die andere Hälfte der Befragten nicht dieser Ansicht. Ein ähnliches Verhältnis zeigt sich auch in der Bewertung von Sex ohne verheiratet zu sein als Sünde – wobei die Gruppe derjenigen, die das nicht so sehen, etwas größer ist. Etwa jeder Zehnte ist bei diesen Fragen unentschieden.

Die Forscher um den Soziologen Tobias Künkler identifizierten anhand dieser Einstellungen vier sexualethische Abstufungen unter den befragten Christen, die sich im Grad ihrer liberalen oder konservativen Prägung unterscheiden. Die größte Gruppe ist mit einem Anteil von einem Drittel diejenige mit einer moderat konservativen Sexualethik. Insgesamt überwiegen die konservativen Einstellungen die liberalen leicht.

Spannung zwischen eigener Norm und Verhalten

Was Christen über Sexualität denken und wie sie sich verhalten, stimmt aber nicht immer überein. Die Forscher fanden etwa heraus, dass von denjenigen, die Sex vor der Ehe ablehnen, etwa ein Drittel die eigene Norm verletzt hatte. Ein ähnlicher Anteil jener, die Masturbation nicht als angemessenes sexuelles Verhalten ansehen, befriedigte sich mindestens mehrmals im Monat.

Pornos konsumieren etwa drei Viertel der Männer und die Hälfte der Frauen mindestens ein paar Mal im Jahr. Dass das ihr Gewissen belastet, geben zwei Drittel der Befragten an. Diese „moralische Inkongruenz“ beim Pornokonsum ist unter freikirchlichen Christen am stärksten ausgeprägt im Vergleich zu Protestanten und Katholiken.

Das lässt sich zu einem guten Teil mit dem persönlichen Glauben erklären. Je theologisch konservativer sich jemand verortet und je stärker er fundamentalistische Ansichten vertritt, desto schlechter fühlt sich ein Christ, wenn er Pornos schaut oder sich selbst befriedigt. Die persönliche Gottesbeziehung und die religiöse Sozialisation spielen dafür jedoch keine Rolle. Eine eher konservative theologische Grundhaltung geht auch mit einer konservativeren Sexualethik einher. Diese fällt auch dann konservativer aus, wenn Christen religiöser sind. Insgesamt spielt die Intensität der Religiosität und die persönliche Gottesbeziehung für die Sexualität weniger eine Rolle als die theologische Haltung.

Mehr Sex als der Durchschnitt

Wie oft Christen Sex haben, scheint von der Ausprägung der Religiosität und der theologischen Haltung völlig unabhängig zu sein. Teilweise schlafen Christen häufiger miteinander als der Durchschnitt der Bevölkerung. Zwar gaben einerseits Christen häufiger als der Durchschnitt an, in den vergangenen vier Wochen keinen Sex gehabt zu haben. Jedoch war der Anteil derjenigen, die mehr als zehnmal Geschlechtsverkehr hatten, unter Christen in allen Altersgruppen und unabhängig vom Geschlecht höher, insbesondere bei denen, die in einer Beziehung waren.

Sexualität und Glaube Foto: SCM R.Brockhaus

Zur Sexualitätsstudie von „empirica“ sind bei SCM R.Brockhaus zwei Bände erschienen. Die Ergebnisse der quantitativen Auswertung stellen Tobias Künkler, Tobias Faix, Tabea Peters und Ramona Wanie in „Sexualität und Glaube. Prägungen, Einstellungen und Lebensweisen“ vor. Die einzelnen Kapitel sind ergänzt um Kommentare von anderen Theologen und Fachexperten, die Methoden und Erkenntnisse der Studie aus einem jeweils eigenem Blickwinkel beleuchten.

Im Band „Unsere Geschichte mit Sex“ präsentieren Daniel Wegner, Jennifer Paulus,
Leonie Preck und Tobias Künkler die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung. Dabei liegt der Fokus darauf, wie sich Vorstellungen von Sexualität konkret im Leben einzelner Menschen widerspiegeln.

 

Der persönliche Glaube und theologische Ansichten haben offenbar auch kaum Auswirkungen darauf, wie zufrieden oder unzufrieden Christen mit der Sexualität in ihrer Partnerschaft sind. Auch die sexualethischen Einstellungen beeinflussen die Zufriedenheit nicht. Nur zur Stärke der Gottesbindung stellten die Wissenschaftler einen, wenn auch schwachen, Zusammenhang fest. Entscheidender für die Zufriedenheit sind etwa die Nähe zum Partner, die Kommunikation über Sex oder die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs. Insgesamt sind fast drei Viertel der verheirateten Christen tendenziell zufrieden mit ihrer Paarsexualität.

In Gemeinden über Sex reden

Die Studie fragte auch danach, in welchem Umfang Christen sexualisierte Gewalt erfahren haben. 42 Prozent gaben an, dass sie schon gegen ihren Willen berührt wurden oder dass jemand dies versucht hat. 13 Prozent erlebten dies in Bezug auf ungewollten Geschlechtsverkehr. Etwa 13 Prozent der Betroffenen gab an, dass mindestens einer dieser Vorfälle im kirchlichen oder Gemeindekontext geschah.

Das Forscherteam leitet aus den Ergebnissen der Studie eine Reihe von Thesen für die kirchliche Praxis und für weitere Diskussionen rund um Sexualität ab. So appellieren die Wissenschaftler an Gemeinden, eine offene Gesprächskultur darüber zu fördern und eine positive Haltung zum Körper und zu Sexualität zu kultivieren. Viele Christen bekämen ihre Sexualmoral auch in Gemeinden vermittelt, daher sei dort eine offene, sichere und wertschätzende Gesprächskultur nötig.

Außerdem sollten Gemeinden anerkennen, dass unter Christen keine einheitliche Sexualethik vorherrscht. Eine einseitige Lehre werde der Lebenswirklichkeit nicht gerecht – das gelte für sehr liberale und sehr konservative Gemeinden gleichermaßen. Zudem werben die Studienautoren dafür, Sexualität theologisch intensiver zu diskutieren. Das beinhalte einen konstruktiven Austausch über das Schriftverständnis oder konkrete Bibelstellen.

Für die Studie wurden mehr als 10.000 religiöse und hochreligiöse Christen im deutschsprachigen Raum befragt. Sie erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität. So liegt etwa der Altersdurchschnitt der Teilnehmer mit 39 Jahren unter dem der Gesamtbevölkerung. Auch Frauen sind überrepräsentiert und Personen mit hohen Bildungsabschlüssen. Von den Befragten gehörten 38 Prozent einer Freikirche, 41 Prozent einer evangelischen und acht Prozent einer katholischen Kirchengemeinde an. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Stichprobe die Freikirchen besser abbilden dürfte als die beiden Volkskirchen.

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