Streit unter Christen beilegen

„Zeit des Umbruchs – wenn Christen ihre evangelikale Heimat verlassen“ – Vorab, das Buch ist besser als der Titel. Viel besser. Hier schreibt ein Mann, der den behaglichen Streichelzoo einer denkmüden Gesellschaft verlässt und keine Angst vor der freien Wildbahn einer theologisch-mündigen Gesprächskultur hat. Eine Rezension von Jürgen Mette
Von Jürgen Mette
Das neue Buch von Markus Till könne den Brückenbau zwischen den getrennten Lagern fördern, meint Jürgen Mette

Schon wieder eine Zeitanalyse! Bitte nicht! So mein erster Eindruck. Überall bricht was um. Der Bauer bricht das Stoppelfeld um, der Schriftsetzer bricht die Seiten um. Europa bricht um, Deutschland bricht um. Das Weltklima bricht um, die Bäume verdursten und brechen um, nur der Borkenkäfer erfreut sich mal wieder einer glänzenden Saison.

Der Untertitel erreicht mich ebensowenig wie der Titel: „Wenn Christen ihre evangelikale Heimat verlassen.“ Ich fühle mich gar nicht angesprochen. Ich bin und bleibe ein fröhlicher Pietist und habe kein Interesse, meine evangelikale Heimat zu verlassen. Ich bleibe, auch wenn andere zum Austritt flöten. Und wohin sollte ich denn gehen?

Vor zwanzig Jahren kam unter dem Label „Postmoderne“ die Emerging Church nach Deutschland. Zuweilen beschleicht mich der Eindruck, dass wir Evangelikale noch nicht einmal in der Kultur der Moderne angekommen sind. Und manche stecken noch in der Prämoderne.

Markus Till gehört zu den Gründern der biblipedia-Webseite. Ich habe mich dort umgesehen und musste bald feststellen, dass die mir bis dato unbekannten Onliner einige Beiträge angriffig und teils übergriffig aufgemacht haben, also kein Brückenbaumaterial, sondern Spalt- und Sprengstoff. Till machte eine Ausnahme. Mit sanfter Vehemenz in der Sache greift er nie Schwestern und Brüder namentlich an. Er verzichtet in seinem Buch sehr weise auf ein Personenverzeichnis. Sonst würden die Eiligen in dem Buch nur nach populären oder skandalisierten Namen schauen und den Wert des Buches verpassen.

Der Stoff dieses Buches ist nichts für überfliegende Leser. Man muss sich schon rein mühen. Der Schreibstil ist streng und gründlich, aber der Schriftsatz hätte etwas luftiger und leichter ausfallen können. Aber die Materie ist ja auch schwer und ernst. Till ist promovierter Wissenschaftler, aber nun mal kein Theologe. Aber er ist ein Bibelleser, ein pietistischer Kirchenmann und er ist Lobpreis-Leiter in seiner Kirchengemeinde am Schönbuch zwischen Tübingen und Stuttgart.

Und er ist mutig: Auf Einladung von idea-Spektrum hat er sich als Verwaltungsmitarbeiter der Uni-Klinik Tübingen auf ein Gespräch mit dem blitzgescheiten Theologen und Buchautor Thorsten Dietz eingelassen. Der ist Professor für systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor und eifriger Worthaus-Referent. Der Disput war ein Musterexemplar für einen fairen und wertschätzenden Diskurs zwischen den sonst so verhärteten Fronten.

Torsten Hebels Bekenntnis und die Folgen

Torsten Hebels Buch „Freischwimmer“ (SCM 2015) war der Ausgangspunkt für weitere Erörterungen des Bruchs zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen. Das Buch müsse ein Schock für alle gewesen sein, die sich bei Torsten Hebels Predigten bekehrt haben, monieren dessen Kritiker. Wie das? Haben die Leute sich zu Jesus Christus bekehrt, oder zu Torsten Hebel? Mit Verweis auf ein spätes Erweckungserlebnis Hebels stellt Till fest, die Inhalte seines neuen Glaubens seien „unevangelikal“. Gott sei für Hebel „keine Person mehr“. Jetzt werde ich stutzig. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott, der sich in Jesus Christus einen Namen gegeben hat, soll eine real existierende Person sein? 4. Mose 23,19: „Gott ist kein Mensch!“ Dass wir ihn mit Vater ansprechen dürfen, das hilft uns in unserem Unglauben und Zweifel, aber das heißt doch nicht, dass Gott ein Mann ist oder eine Frau.

Mit Verweis auf die Protagonisten der Postevangelikalen Torsten Hebel, Jakob Friedrich, Martin Benz, Siegfried Zimmer von Worthaus und Jakob Friedrichs und Gottfried Müller von Hossa Talk zeigt sich Till sehr demütig und verständnisvoll. Er stellt fest, dass diese drei Faktoren den Dialog zwischen den Fronten erschweren: persönliche Verletzungen, Vorurteile, Missverständnisse.

Ab Seite 70 wird das Werk sehr aufschlussreich. Jetzt merkt man den Naturwissenschaftler. Er entkräftet den Vorwurf, die Christen seien zu wissenschaftsskeptisch. Christliche Wissenschaftspioniere wie Isaac Newton wären davon ausgegangen, dass in der Schöpfung Gottes Weisheit und Ordnung zu finden sei. Das liest sich im O-Ton wie folgt:

Das habe sie angetrieben, „diese Ordnung in Form von Naturgesetzen zu erforschen. … Anders sieht es aus, wenn man behauptet, dass tatsächlich jede Wirkung immer eine natürliche Ursache hat, und dass übernatürliche Kräfte oder Wesen prinzipiell nie am Werk sind. Diese Sichtweise kann man als einen verabsolutierten ‚methodischen Naturalismus‘, ‚methodischen Atheismus‘ oder das ‚Prinzip der kausalen Geschlossenheit‘ bezeichnen.“

Das ist die entscheidende Einsicht: Die Frage nach dem Woher? muss deutlich von der Frage wie? unterschieden werden. Über das Wie? hat die Wissenschaft tüchtig geforscht und geklärt, aber keine der gängigen Erklärungsversuche klärt die Frage des Woher?.

Was der Autor über das Schriftverständnis schreibt (ab Seite 87), deckt sich weitgehend mit meinem. Till fegt die Vertreter der historisch-kritischen Methode nicht empört vom Tisch, sondern würdigt und kritisiert sie. Eine Kunst, die wir alle neu lernen müssen.

Naturwissenschaft und Glaube im Streit

Unter der Überschrift „Das Weltgeschehen und Gottes Handeln bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen“ weist er den uralten Kontrahenten Naturwissenschaft und Glaube (Seite 114) unterschiedliche Ebenen zu:

Die Naturwissenschaft befasse sich mit dem Innenleben des Ablaufs unseres Weltgeschehens. Sie sei nur auf Vorgänge aus, die natürlichen Regeln (Naturgesetzen) gehorchen. Die Theologie hingegen befasse sich mit dem Autor des Drehbuchs der Geschichte. Er bewege sich auf einer völlig anderen Ebene außerhalb des Geschehens. Er entziehe sich deshalb auch dem Zugriff der Naturwissenschaften, obwohl er auf geheimnisvolle Weise eben doch ins Weltgeschehen eingreife.

Allerdings gilt für ihn auch: „Wenn wir die Eingriffe Gottes in die Geschichte grundsätzlich auf ein verborgenes Wirken reduzieren, das den naturwissenschaftlich fassbaren Ursache-Wirkungs-Ketten an keiner Stelle zuwiderläuft, dann stellen wir nicht nur eine Hauptbotschaft des Johannesevangeliums infrage. Dann haben wir ein grundsätzliches Problem mit der Botschaft des Neuen Testaments.“ (Seite 117) Denn dort spielen zeichenhafte Wunder, in denen Gott die separate Ebene verlässt und ganz direkt und unmittelbar ins Geschehen eingreift, eine zentrale Rolle. Das gilt natürlich für die leibliche Auferstehung, das gilt aber auch z.B. für die zeichenhaften Wunder wie die Auferweckung des Lazarus, die Jesus als den Messias ausgewiesen haben. An der Tatsächlichkeit dieser wundersamen Eingriffe Gottes festzuhalten, obwohl damit diese Separierung in verschiedene Ebenen immer wieder durchbrochen wird, ist für Till ein wichtiges Element des Glaubens und der biblischen Botschaft. Auch die Theologie sollte aus seiner Sicht unbedingt mit dieser Möglichkeit göttlicher Eingriffe in Raum und Zeit rechnen und sie nicht aufgrund eines falschen und übergriffigen Wissenschaftsbegriffs grundsätzlich ausschließen.

In den Kapiteln 2 bis 4 versucht Till Gesprächsblockaden wie Verletzungen, Missverständnisse und Vorurteile zu erkennen und zu bearbeiten. In Kapitel 4 stellt er zudem einige „Schubladenbegriffe“ vor, ideologisch überfrachtete Container, die es zu überwinden gelte. Mit den aktuellen theologisch umkämpften Themen wie die leibliche Auferstehung Jesu, das Versöhnungswerk Jesu und sein stellvertretendes Leiden stellt er die Knackpunkte vor, die die Evangelikalen auseinander treiben.

So gelingt Kommunikation

Der Höhepunkt des Buches beginnt mit dem Kapitel 6 auf Seite 161: Zehn Regeln für einen fruchtbaren Dialog. Da spürt man die Sehnsucht des Autors nach Einheit der Christen untereinander. Allein dieses Kapitel verdient die Anschaffung dieses Buches. Man könnte auch die Lektüre dieses hilfreichen Schriftwerkes auf Seite 161 beginnen und sich rückwärts zum Anfang bewegen und die beiden nicht weniger wertvollen Kapitel 7und 8 sich als Aperitif aufheben.

Da fühle ich mich direkt angesprochen und stimme einsichtig zu: „Es hilft niemandem, wenn man anderen Christen unterstellt, ihre Argumente wären Ausdruck von ‚purer Angst‘ oder wenn man sie pauschal als ‚Scharfrichter‘ oder ‚empörte Bekenntniskämpfer‘ bezeichnet.“ (Seite 162) Oder: „Wo Zynismus, Sarkasmus, Polemik, Verächtlichmachung und Herabwürdigung zum rhetorischen Stilmittel wird, da sollten wir uns alle gemeinsam abwenden, egal ob ein Referent inhaltlich auf unserer Linie liege oder nicht.“ (Seite 163) Wenn solche Regeln unsere Kommunikation bestimmen würden, dann wäre schon viel erreicht. Möge dieses Werk den Brückenbau zwischen den getrennten Lagern fördern.

Markus Till: „Zeit des Umbruchs“, SCM, 256 Seiten, 16,99 Euro, ISBN 978-3-417-26880-5

Von: Jürgen Mette

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