Meinung

Spielfilm über einen „britischen Oskar Schindler“

Er rettete Hunderten jüdischen Kindern in der Tschechoslowakei vor dem Einmarsch Hitlers das Leben. Nicholas Winton ist in Großbritannien als Held bekannt. Nun kommt ein Spielfilm über den „britischen Oskar Schindler“ in die Kinos.
Von Jörn Schumacher
Nicholas Winton

Die Geschichte von Nicholas Winton ist außerhalb Großbritanniens wohl nur Experten bekannt. Weil er 669 vor allem jüdische Kinder vor dem Tod in Konzentrationslagern der Nazis rettete, wurde er von der Königin zum Ritter geschlagen, und mehrere Statuen erinnern an ihn. Nun macht der britische Regisseur James Hawes die bewegende Geschichte glücklicherweise mit einem äußerst sehenswerten Kinofilm (Kinostart: 28. März 2024) auch hierzulande bekannter. In der Hauptrolle: der zweifache Oscar-Preisträger Sir Anthony Hopkins, der wie erwartet einen sensationell guten Job macht.

Der Filmtitel „One Life“ (ein Leben) lehnt an das jüdische Sprichwort an, dass wer ein Leben rettet, eine ganze Welt rettet. Wir schreiben das Jahr 1938, und der 29-jährige Londoner Börsenmakler Nicholas Winton will eigentlich einen Skiurlaub in der Schweiz machen. Doch er hört davon, dass Hitler die Tschechoslowakei angreifen will und nun Millionen Menschen in Gefahr sind. Zehntausende fliehen ins noch unbesetzte Prag, viele von ihnen haben Kinder. Winton verlässt seine Comfort-Zone als Banker in London und reist nach Prag, um zu helfen. Zunächst bietet er im britischen Komitee für Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei seine Hilfe beim Papierkram an. Nach und nach engagiert er sich immer mehr, beschafft für viele Kinder der Geflüchteten Geld und Ausreise-Visa, findet Hunderte Pflegeeltern in England, die sie aufnehmen, und organisiert die Ausreise per Zug.

„Verdammter Hitler. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

Johnny Flynn („Emma“) spielt den jungen Winton, später in den 80er Jahren blickt ein bereits 80-jähriger Winton auf das Geleistete zurück, meisterhaft verkörpert durch Anthony Hopkins. Als Wintons Mutter tritt Helena Bonham Carter („Fight Club“, „Sweeney Todd“) auf, die bereits zwei Mal für den Oscar nominiert wurde. Regisseur James Hawes ist unter anderem für die Serie „Black Mirror“ bekannt. Am Drehbuch schrieb die Tochter von Winton, Barbara Winton, mit.

Nicholas Winton wurde 1909 geboren, seine Eltern waren deutsche Juden, die zwei Jahre zuvor nach London gezogen waren. Der Nachname der Eltern war ursprünglich Wertheim, aber im Bemühen um Integration wurde er in Winton geändert. Sie konvertierten auch zum Christentum und ließen Nicholas taufen. In einer Szene bittet Winton einen Rabbiner in Prag, ihm eine Liste mit jüdischen Kindern zu geben, die er retten kann. Der will von dem Engländer wissen, warum er diese schwere Arbeit auf sich nehmen will. „Sind Sie Jude?“, fragt der Rabbiner Winton. Der zögert. Ist es nicht eigentlich egal, ob jemand Jude ist oder nicht, wenn es darum geht, ein Menschenleben zu retten? Dann erklärt er seine jüdische Abstammung, aber eigentlich sei er „Europäer, Agnostiker, Sozialist“, so Winton. Ein Held sei er nicht, nur ein gewöhnlicher Mensch. Es bedürfe eben nicht einer Schar von Helden, sondern einer Schar von ganz gewöhnlichen Menschen – einer „Armee der Gewöhnlichen“, um Kinder zu retten.

Dass Winton rückblickend eben doch ein Held wurde, zeigt auch die Nachwirkung. Die britische Presse feiert ihn als „britischen Oskar Schindler“, 2003 wurde er von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen, 2014 wurde ihm die höchste Auszeichnung der Tschechischen Republik, der Orden des Weißen Löwen 1. Klasse verliehen. Seit 2010 gibt es am Bahnhof in Maidenhead westlich von London eine Statue. Enthüllt wurde das Denkmal seinerzeit von Theresa May, damals Abgeordnete des Wahlkreises im britischen Unterhaus, später Premierministerin. Die BBC berichtete damals, der 101-Jährige habe vor der Zeremonie zur Enthüllung noch den Gottesdienst besucht. Auch am Prager Hauptbahnhof wurde eine Statue in Gedenken an Winton errichtet. In Yad Vashem wurde er allerdings nicht zu einem „Gerechten unter den Völkern“ erklärt, da er dort als Jude angesehen wird.

Gerettete treffen Retter

Dass er es nicht schaffte, alle Kinder zu retten, setzt ihm sehr zu. Bis ins hohe Alter macht sich Winton Vorwürfe, nicht hart oder schnell genug gearbeitet zu haben. Der neunte und letzte Zug mit 250 Kindern, der Prag verlassen sollte, wurde von den Nazis abgefangen. „Verdammter Hitler“, sagt Winton rückblickend im hohen Alter. „Mehr kann ich dazu nicht sagen.“ Die Verlegerin Betty Maxwell, die sich für den Fall interessiert, rückt jedoch sein Werk ins rechte Licht: „Etwa 15.000 Kinder kamen in der Tschechoslowakei in Konzentrationslager, und weniger als 200 von ihnen überlebten. Und Sie retteten 669.“

Emotionaler Höhepunkt des äußerst sehenswerten Films ist die Zusammenführung einiger der geretteten Juden mit ihrem „gewöhnlichen“ Helden in der BBC-Fernsehsendung „That‘s Life“ im Jahr 1988. Es war diese Fernsehsendung, durch die die Film-Produzenten Emile Sherman und Iain Canning auf die Geschichte von Sir Nicholas Winton aufmerksam wurden. Der berühmte Clip, der regelmäßig von Millionen Menschen in den sozialen Medien gesehen wird, wird jedes Jahr am Holocaust-Gedenktag in britischen Schulen gezeigt.

Viele der „Winton-Kinder“, wie man sie heute nennt, konnten ausfindig gemacht werden. Unter ihnen sind namhafte britische Persönlichkeiten, darunter ein Parlamentsmitglied der Labour-Partei, ein Mathematiker, eine Genetikerin, ein Filmemacher, ein kanadischer Journalist oder ein späterer Oberrabbiner in Jerusalem. Man schätzt, dass heute mehr als 6.000 Menschen dank der Prager Rettungsaktion am Leben sind. Winton verstarb am 1. Juli 2015 im Alter von 106 Jahren. Die Geschichte dieses außergewöhnlichen „gewöhnlichen“ britischen Schindler musste dringend erzählt werden, ein Kinobesuch lohnt sich!

„One Life“, 110 Minuten, mit Anthony Hopkins und Helena Bonham Carter, Regie: James Hawes, ab 28. März 2024 im Kino.

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