„Spiegel“-Gespräch: „Kinder wieder als Kinder behandeln“

"Eltern müssen Kinder wieder als Kinder behandeln, um ihnen eine gesunde psychische Reifeentwicklung zu ermöglichen." Diese Auffassung vertritt der Bonner Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff, Autor der beiden Sachbücher "Tyrannen müssen nicht sein" und "Warum unsere Kinder Tyrannen werden", im "Spiegel"-Gespräch mit dem Diplompädagogen Wolfgang Bergmann. Die Gesellschaft sei dazu aufgefordert, sich mit dem Entwicklungsnotstand auseinander zu setzen, bevor das System zusammenbricht.
Von PRO

Einen Grund für einen Entwicklungsnotstand in der Erziehung sieht Bergmann in der heutigen Elterngeneration, die im Umgang mit ihren Kindern so verunsichert sei, wie noch nie. Dieser Generation fehlten die Lösungen zu den Auflösungserscheinungen der modernen Gesellschaft, was zu sozialen und seelischen Verfallserscheinungen wie Körperselbstbildstörungen und Computersucht führe: „Hier reichen die alten individualtherapeutischen Ansätze nicht aus.“ Bergmann ist Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover.

Michael Winterhoff hält die Entwicklungsstörungen der Kinder für einen Mangel an psychischer Reife. 20 Prozent seien nicht reif für eine Ausbildung, obwohl oft engagierte und beziehungsfähige Eltern im Hintergrund stünden. Während sich beide Experten in der Diagnose einig sind, besteht doch Dissens in der Frage, was hinter den Auffälligkeiten steht. Für Winterhoff ist ausschlaggebend, dass die Kinder von heute zunehmend Respektlosigkeit zeigten und sich nicht mehr auf das Gegenüber einstellten.

„Erwachsene haben sich zu sehr um sich selbst gedreht“

„Anfang der neunziger Jahre gab es einen enormen Wohlstand, der dazu führte, dass man sich als Erwachsener sehr um sich selbst drehte und dazu neigte, auch seine Kinder zu verwöhnen“, bilanziert Winterhoff. Global gesehen gebe es viele angstmachende Prozesse. Auch der Computer habe für eklatante Veränderungen gesorgt. Die Erwachsenen benutzten das Verhalten der Kinder vermehrt als Beweis dafür, ob man selbst gut oder schlecht ist: „Das heißt, der Erwachsene wird jetzt bedürftig, und das Kind soll die Bedürfnisse erfüllen.“

Ein Teil der Kinder „flutscht links und rechts an allen Vorgaben und Regeln vorbei“, meint Bergmann. Winterhoffs „Machtumkehr“ nenne er „Elternliebe“. Diese sei Voraussetzung dafür, dass Kinder mitempfindsame Wesen werden. Deutliche Kritik übt Bergmann an Winterhoffs Aufforderung, den Kindern „Widerstand entgegenzusetzen“. „Kinder erwerben Bindung, Anerkennung und damit auch Gehorsam durch die natürliche Liebe zu den Eltern.“

„Schreckenspanorama nicht mit autoritären Mitteln lösen“

Winterhoff plädiert zudem dafür, schwierige Erziehungsfragen aus der eigenen Intuition zu lösen. „Wo diese Intuition fehlt, gibt es oft eine Beziehungsstörung.“ Bergmann hält Winterhoffs Ansatz für falsch, dass bestimmte Ziele erreicht werden müssten. Denn Kinder entfalteten ihre Intelligenz und Neugier durch streunende, abenteuerlustige Neugier. Das von Winterhoff entworfene „Schreckenspanorama“ könne nicht mit autoritären Mitteln gelöst werden: „Ein Vorschlag, der die Gesamtproblematik löst, würde bei mir und wahrscheinlich bei allen Fachleuten auf massives Misstrauen stoßen.“ Die Gesellschaft müsse raus aus der erzwungenen Rivalität, die schon die Schule beherrscht, wo Kinder fragen, ob sie mit Hauptschulkindern noch spielen dürfen. (PRO)

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