Solidarisch mit dem schwer verwundeten Israel

Israel hat am Samstag einen der schwersten Angriffe in seiner Geschichte erlebt. Trotz aller internationaler Solidarität hinterlässt der 7. Oktober tiefe Wunden – deren Heilung lang dauern wird. Ein Leitartikel von Christoph Irion.
Von Christoph Irion
Zaka

Schon jetzt steht fest: Der 7. Oktober 2023 wird als ein finsteres, verstörendes, sehr trauriges Datum in die Geschichte des Staates Israel eingehen. Viele Israelis sprechen bereits von „unserem 11. September“. Der groß angelegte, brutale Terrorangriff von palästinensischen Hamas-Kämpfern aus dem Gazastreifen am frühen Samstagmorgen zeigt eine neue Qualität der Gewalt: Bis Montagnachmittag kamen im Süden Israels mehr als 800 Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt, mindestens einhundert Israelis wurden als Geiseln verschleppt.

Nie zuvor in seiner 75-jährigen – durchaus konfliktreichen – Geschichte musste der Staat Israel innerhalb weniger Stunden derart viele zivile Opfer beklagen. Seit dem Holocaust wurden nie so viele Juden an einem einzigen Tag ermordet.

Und während die radikalislamische Hamas in offiziellen Statements von einem „offenen Kampf zur Verteidigung unseres Volkes und der Al-Aksa-Moschee“ auf dem Jerusalemer Tempelberg spricht, stürmten die Terroristen aus Gaza in den nah gelegenen israelischen Orten und Kibbuzim von Haus zu Haus und mordeten wahllos: Frauen, Kinder, Alte und andere Wehrlose. Nur weil sie Israelis waren.

Beispiellos ist das Massaker, das die Terroristen auf einem Festivalgelände anrichteten: Vor allem junge Menschen wollten einfach nur friedlich feiern und Musik erleben – binnen kürzester Zeit wurden 260 von ihnen regelrecht hingerichtet, andere entführt oder vergewaltigt.      

Erinnerungen an den Jom-Kippur-Krieg werden wach

Zugleich lässt sich bei dem Hamas-Großangriff auf Israel ein historisches Muster mit großer Symbolkraft erkennen: Es dürfte kein Zufall sein, dass die Attacke fast auf den Tag genau am Jahrestag des Ausbruchs des Jom-Kippur-Kriegs erfolgte. Am 6. Oktober 1973 wurde Israel zeitgleich im Südwesten von ägyptischen Truppen und im Nordosten von syrischen Soldaten angegriffen – die seit dem Sechstagekrieg 1967 als legendär geltende israelische Armee wurde damals völlig überrumpelt.

Der Jom-Kippur-Krieg hat sich seither wie eine ewige Mahnung ins kollektive Gedächtnis der Israelis eingebrannt. Der einstige Jagdflieger-Held aus dem Sechstagekrieg und spätere Friedensunterhändler und Staatspräsident Ezer Weizman (1924-2005) resümierte noch Jahre später selbstkritisch: Dieser Krieg habe das Selbstvertrauen der Araber nachhaltig „gestärkt und die Abschreckungsfähigkeit unserer Streitkräfte verringert“. Der „einstige Nimbus“, so Weizman, dass Israel unverwundbar sei, sei 1973 „zerstört“ worden.

Genau fünf Jahrzehnte danach fragen sich die Israelis nun erneut: Wie konnte es geschehen, dass die weltweit bewunderte und digital hochgerüstete israelische Aufklärung in Geheimdienst und Militär erneut so tragisch, unwissend und offenbar blind und taub war? Damals wie heute hatten die Gegner an einem hohen Feiertag zugeschlagen. Auch in Washington und London fragen sich Experten, warum selbst die Nachrichtendienste der USA und Großbritanniens, die im Ukrainekrieg so erfolgreich und treffsicher Daten sammeln und Informationen auswerten, bei der jetzigen Hamas-Attacke so ahnungslos waren.

Biblischer Trost

Für neun Millionen Menschen in Israel zählt aber in diesen Tagen keine Symbolik. Die Israelis sind wieder einmal ein verwundetes Volk. Dass blutwütige islamistische Terroristen stundenlang ungehindert mordend und marodierend durch Wohnorte ziehen konnten, wird das ohnehin fragile kollektive Sicherheitsgefühl vieler Menschen nachhaltig beeinflussen. Wer in Israel lebende Menschen als Bekannte, Verwandte oder Freunde hat, wird in diesen Tagen kaum jemanden antreffen, der nicht Angehörige hat, die nicht als Reservisten eingezogen werden: Jede Familie scheint betroffen zu sein, viele sogar mehrfach.

Dies alles geschieht nicht von ungefähr in einer Zeit, in der der langwierige innen- und staatspolitische Streit um die Justizreform den jüdischen Staat geschwächt und die Bevölkerung tief gespalten hat.

Unter Christen und Juden, die für Heilung, für Trost und letztlich für Frieden und Versöhnung beten, hört man in diesen Tagen oft Verse aus dem 121 Psalm, wo der Beter den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs als treuen Menschenhüter beschreibt – und als Tröster und Bewahrer Israels:

Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht. Siehe der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.“  

Überwältigende Solidarität

Manche Beobachter mag es erstaunen, dass etliche internationale Reaktionen – zumal die in Deutschland – so eindeutig Solidarität mit Israel bekundeten. Während die Bundesregierung und viele andere Gruppierungen hierzulande Israel in den vergangenen Jahren bei aller „Freundschaft“ immer wieder an den Pranger stellten und Zugeständnisse bei den Siedlungen forderten oder eine „Zweistaatenlösung“, die vor Ort seit geraumer Zeit für kaum jemanden eine realistische Option darstellt, gab es diesmal andere Töne.

Sogar mit großem Einvernehmen: Denn die Vorsitzenden von SPD, CDU, CSU, den Grünen und FDP verbreiteten eine gemeinsame Erklärung. Mit dem Kernsatz: „Die Sicherheit des Staates Israel ist uns Verpflichtung und deutsche Staatsräson.“ Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ließen es an verbaler Deutlichkeit nicht fehlen. Denn völkerrechtlich ist der Fall klar: Jenseits begründeter humanitärer, sozialer und anderer Forderungen der Palästinenser, deren Adressat nicht allein Israel sein kann, gibt es niemals eine Rechtfertigung für blindwütige Gewalt, die sich, mit welcher Begründung auch immer, wahllos gegen wehrlose Zivilisten richtet.

Begrenzte Handlungsoptionen für Israel

Eindrucksvoll war die spontane Kundgebung am Sonntagnachmittag in Berlin: 2.000 Menschen, rund doppelt so viele wie bei früheren Anlässen, bekundeten friedlich, aber deutlich ihre Solidarität mit Israel. Vertreter der christlichen Kirchen äußerten sich ebenfalls.  Ähnlich wie bei UN-Generalsekretär António Guterres hielten es die Kirchen aber eher mit allgemein Gewalt ablehnenden Forderungen, adressiert an alle Konfliktparteien.   

Kai Wegner Foto: PRO(Martin Schlorke
Berlins Regierender Bürgermeister, Kai Wegner (CDU), drückte Berlins „bedingungslose Solidarität mit Israel“ aus

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat begrenzte Handlungsoptionen: Klar ist, dass er vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte hart reagieren muss. Israel hat aktuell 300.000 Reservisten mobilisiert, so viel wie noch nie in so kurzer Zeit. Netanjahu hat angekündigt, Israel werde die Hamas kampfunfähig machen. Beobachter erwarten und befürchten nun eine Bodenoffensive: Dadurch dürfte es auch zu zahlreichen zivilen Opfern unter den Palästinensern kommen. Vor allem, weil die Hamas zivile Infrastruktur nutzt und Zivilisten als Schutzschilde missbraucht.

Und auch die öffentliche Meinung zu Israel könnte dann schnell kippen, die Solidarität aufweichen – die Opfer stünden dann eher als Täter dar und umgekehrt. Ohnehin haben die Israelis eigentlich kein strategisches Interesse, den Gazastreifen, den sie 2005 geräumt haben, einzunehmen.

Noch komplizierter ist die allgemeine Kräftekonstellation in der Region: Im nördlich gelegenen Libanon agiert seit Jahrzehnten die hochgerüstete schiitische Hisbollah-Miliz, die vom Iran finanziert wird. Israelische Militärstrategen haben großen Respekt vor diesen Kämpfern und ihren Tausenden Raketen – denn die Hisbollah ist erheblich stärker als die palästinensische Hamas. Und die Hisbollah ist kriegserprobt: Seit vielen Jahren kämpfen ihre Verbände im syrischen Bürgerkrieg. Niemand in der Region und in der Welt sollte ein Interesse haben, dass sich die Kampfhandlungen ausweiten und dass es wieder zu einem Flächenbrand in Nahost kommt.  

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