Hannover, Donnerstagmorgen, kurz vor 8 Uhr. Am Hauptbahnhof Berlin fährt eine überfüllte U-Bahn nach der anderen in Richtung Messegelände. Es ist Kirchentag. Für mich als Berliner sind so volle Bahnen keine Ausnahme, eher Alltag, wenngleich die Fahrt bei sommerlichen Temperaturen auch für den leid erprobten Bahnfahrer nicht Vergnügungssteuerpflichtig ist. Doch es gibt zwei signifikante Unterschiede zum Berliner U-Bahn-Alltag. Zum einen singen die Kirchentagsbesucher typischerweise gutgelaunt während der kompletten Bahnfahrt Klassiker wie „Großer Gott“ oder den Kanon „Vom Aufgang der Sonne“. Zum anderen sind die Fahrer der Züge zuvorkommend und zu Späßen aufgelegt, etwa wenn beim Einsteigen „alle Brüder und Schwestern“ begrüßt werden oder die Kirchentagsbesucher an der Messe mit dem Spruch: „Jetzt wissen sie, wie sich die Tiere auf der Arche gefühlt haben müssen“ verabschiedet werden. Beides ist für mich Kirchentag. Zum einen die fröhliche und friedvolle Gemeinschaft. Zum anderen die Herzlichkeit und Offenheit, die sich in der Stadt, aber auch auf den unzähligen Diskussionen auf den Bühnen des Kirchentags widerspiegelt.
Martin Schlorke
Es gibt Dinge auf dem Evangelischen Kirchentag, die sind in Stein gemeißelt wie die Zehn Gebote und so sicher wie das Amen in der Kirche. Margot Käßmann ist hier noch ein Star. Die Papphocker quälen den Rücken spätestens am zweiten Tag. Abends, wenn es dunkel wird, brennen Kerzen, das Evangelische Gesangbuch wird gezückt und das Gelände in andächtige Musik getaucht. Ins Bett gehts frühestens nach dem Abendsegen.
In einer verrückt gewordenen Welt ist der Kirchentag eine sichere Bank. Darüber können auch die vielen wahlweise peinlichen, theologisch fragwürdigen oder langatmigen Veranstaltungen nicht hinwegtäuschen. Der Kirchentag ist das Lagerfeuer der Kirchenbubble. Gut, dass es ihn gibt!
Anna Lutz
Der Kirchentag in Hannover war für mich sehr bewegend. Besonders die Bibelarbeit von Armin Laschet und Christiane Tietz hat mich berührt, vor allem der Vers aus Jeremia 29,11: „Ich gebe euch wieder Zukunft und Hoffnung.“ Laschet hat betont, dass Christen nicht weglaufen sollen, sondern mitgestalten, auch in schwierigen Zeiten wie Krieg und Flucht. Tietz erinnerte daran, dass wir als Christen Hoffnung schenken und dem Bösen widersprechen sollen. Ein Satz von Laschet hat mich besonders begleitet: „Das Beste, was wir dieser Welt geben können, ist unsere christliche Botschaft.“ Die Vielfalt an Menschen, Meinungen und Veranstaltungen hat mir gezeigt, wie lebendig Kirche sein kann. Es geht nicht nur um Strukturen, sondern um echte Teilhabe und darum, dass Kirche sich verändert. Events wie der Kirchentag helfen dabei, auch Menschen außerhalb der Kirche zu erreichen. Für mich war das sehr ermutigend.
Petra Kakyire
Ich bin wahrlich kein Fundamentalkritiker des Kirchentages und kann ihm viel Gutes abgewinnen. Natürlich darf und sollte sich die Kirche auch politisch äußern (anders sieht es übrigens auch die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner nicht). Trotzdem wirkte es auch dieses Jahr oft so, als ob Bibel und Jesus vor allem dann eine Rolle spielen dürfen, wenn sie dem eigenen Anliegen helfen. Da war etwa der Auftritt der Pastorin Mariann Edgar Budde, die vor Wochen Trump kritisiert hatte. Eine beeindruckende Frau, keine Frage. Sie sprach über die Frauen am Grab, die dem auferstandenen Jesus begegneten. Eine Knaller-Wundergeschichte. Doch statt über Auferstehung und ewiges Leben sprach Budde aber über etwas ganz anderes: Die Frauen seien im Morgengrauen aufgebrochen – also hätten sie im Dunkeln aufstehen müssen. Sie seien also von der Dunkelheit ins Licht gegangen. Auch wir seien manchmal im Dunklen und müssten ins Licht gehen. Matthäus wäre von so einer Auslegung seines Evangeliums sicher beeindruckt gewesen. Buddes Bibelarbeit stand aber in Teilen doch beispielhaft eher für eine Exegese, bei der die Auslegerin eine fast genauso große Rolle spielt wie der Text selbst. Am Ende führte das zu eifrigem Nicken und Szenenapplaus, aber zu wenigen herausfordernden Gedanken für die Kirchentagsbesucher.
So erlebte ich es auch auf einem Abendmahl nach Art der Herrnhuter Brüdergemeine, auf das ich mich gefreut hatte. Ich erwartete Zinzendorf-Theologie und christliche Mystik, etwas faszinierend Fremdes – doch neben einigen alten Liedern und, Gott sei Dank, Lesungen aus der Schrift wurde die Mahlfeier zu einer arg diesseitigen Gemeinschaftsübung. Immerhin wurden die Einsetzungsworte gelesen. Im Gebet vor der Mahlfeier ging es darum, dass Jesus ja auch arm gewesen sei. Um sein Opfer am Kreuz nicht. Eine Combo spielte zwischendrin schönen Jazz, unter anderem vom großen Abdullah Ibrahim, aber eben nichts wirklich genuin Christliches. Während die Gemeinde den Traubensaft trank, um an Jesu Leiden und Sterben zu denken, lief das Stück „Small Time Shit“, dessen Titel per Beamer eingeblendet wurde. Das war mir dann doch zu profan. Auch wenn ich weiß, dass das nur ein kleiner Ausschnitt des Kirchentags war.
Nicolai Franz