Sie wollen alle nur spielen

Drei Prozent aller Deutschen sind laut offiziellen Studien spielsüchtig. Egal ob "Einarmiger Bandit", Roulette oder Sportwetten - das Problem ist weiter verbreitet als gedacht. In Deutschland ist die Spielsucht noch nicht offiziell als Krankheit anerkannt. Der Therapiebedarf wächst trotzdem beständig.
Von PRO

"Es ist wie bei einem Fixer, der darauf wartet den nächsten Schuss zu setzen. Ich hatte kein besonderes Kribbeln im Bauch, wenn ich ins Kasino gegangen bin. Nur am nächsten Morgen, da habe ich mich dann beim Blick auf das Bankkonto Scheiße gefühlt." Es sind die Bekenntnisse eines Spielsüchtigen, der anonym bleiben möchte, obwohl er nach drei Jahren den Ausstieg geschafft hat. Das Abhängigkeitsverhältnis von Spielern dauert im Normalfall viel länger.

"In Wirklichkeit wünschte ich mir Glück"

Eher schleichend angefangen hat die Spielsucht bei Uwe Heimowski – über den Alkohol. Nach einem Abend mit zu viel Schnaps wurde der bisher so schüchterne Uwe erstmals für seine "Freunde" zum lockeren Kumpel. Mit dem neuen Freundeskreis ließ es sich gut feiern: Zum Alkohol kamen noch Drogen und das Interesse am Glücksspiel. Für den heutigen Gemeindepastor, der über seine Spielsucht ein Buch geschrieben hat, steht fest: Seine Ausflüge in die Spielhalle des Nachbarortes waren Ausdruck seines Verlangens nach dem Glücklichsein.

Über Umwege findet er zunächst Anschluss an eine Gemeinde und sein christlicher Freundeskreis wächst. Neue Ansprüche bestimmen sein Leben. Doch von dem Wunsch, dass der "liebende Gott mich im Alltag so oft wie möglich beschenken sollte" spürte er nicht viel. Niedergeschlagen und aggressiv bricht er fast alle Kontakte zur Gemeinde ab und findet seine Ablenkung wieder einmal in der Spielhalle.

Das eigene Wesen immer im Griff?

Verglichen mit einem Drogen- und Alkoholsüchtigen, schreibt Heimowski, hat ein Spieler sich und sein Wesen immer im Griff: "Viele Süchtige verwahrlosen äußerlich, ich jedoch trat immer sehr gepflegt auf." Sätze wie "Nie wieder" hat er jedoch genauso wie "Junkies" oft genug ausgesprochen. Einer seiner guten Freunde bürgt sogar für einen Kredit. Trotzdem investiert Heimowski das hart verdiente Geld in der Spielhalle. "Andere gaben sich so viel Mühe mit mir, und ich verspielte alles Geld und belog sie nach Strich und Faden. Der Wunsch entsteht sich anderen zuliebe umzubringen", schreibt der heute 46-Jährige.

Bei einen Pastor aus Flensburg kann er seine Sorgen und Nöte los werden. Er erlebt die Freiheit, auf das Spielen verzichten zu können: "Gott war mir konkret begegnet", beschreibt er sein entscheidendes Erlebnis. Weil viele Einrichtungen keinen Spielsüchtigen aufnahmen, findet er erst nach längerer Zeit einen Reha-Platz. Er muss nicht nur sein gewohntes Umfeld zurücklassen, sondern auch die Trennung von seiner damaligen Freundin verkraften. "Die Therapie wurde noch härter als ich es mir je vorgestellt hatte", blickt Heimowski zurück.


Ein Modellprojekt: Die Ambulanz für Spielsucht


Vor 25 Jahren bei Uwe Heimowski war so etwas noch undenkbar, heute existiert ein wissenschaftliches Betätigungsfeld: Am Uniklinikum Mainz gibt es seit 2008 eine Ambulanz für Spielsucht. Gegenüber pro betont der Psychologe Kai Müller, der maßgeblich mit am Aufbau der Ambulanz beteiligt ist: "Im internationalen Vergleich ist Deutschland im Hinblick auf die Spielsucht-Therapie eher Nachzügler. Die Asiaten und Amerikaner hatten das Thema schon einige Jahre vor uns auf ihrer Agenda."

Das Modellprojekt bietet neben der Therapie des krankhaften Glücksspiels auch gruppentherapeutische Behandlungsangebote für Computerspiel- bzw. Internetsucht. Müller bilanziert: "Das Altersspektrum der Patienten liegt normalerweise zwischen 12 und 35 Jahren, das Gros von ihnen sind männliche Patienten zwischen 18 und 25." Die Entwicklung, die sich bei einem Spielsüchtigen vollzieht erklärt er sehr anschaulich: "Die Prioritäten bei einem Süchtigen verschieben sich deutlich: Wenn früher beim Lesen eines guten Buches oder beim Kuss der Freundin der Körper Dopamin ausgeschüttet hat, empfindet der Süchtige dieses Gefühl nur noch beim Spielen." Auch körperlich kommt es zu Veränderungen: "Durch das erhöhte Spielpensum sinkt die Toleranzschwelle. Die Menschen sind unruhig, gereizt und antriebslos. Es kommt zu Schlafstörungen. Jugendliche verweigern den Schulbesuch."

"Grundsätzlich ist keiner gegen Spielsucht immun", erklärt Müller gegenüber pro. Bei einem Verdachtsfall, können sich Patienten telefonisch an die Ambulanz wenden: "Wenn sich der Verdacht erhärtet, findet ein diagnostisches Erstgespräch statt. Falls die Menschen gleich eine Beratung wünschen, führen wir eine differenzierte Diagnose durch", beschreibt Müller. "Danach entscheiden wir, wie es weitergeht. Bei einer Therapie geht es darum, verloren gegangene Fähigkeiten wie Stressbewältigung wieder neu zu erlernen." Der Therapieplan sieht viele Gespräche und gemeinsames Sporttreiben vor. Der vom Süchtigen am Beginn der Therapie unterschriebene Vertrag soll eine gute Hilfestellung sein.

Angedrohte Konsequenzen durchsetzen

"Bei Entzugserscheinungen sind zerstörtes Mobiliar und Handgreiflichkeiten gegen Angehörige keine Seltenheit", verdeutlicht Müller. "Gerade für Eltern ist es wichtig, angedrohte Konsequenzen durchzusetzen und bei Anfeindungen hart zu bleiben. Das Allerschlimmste ist die Co-Abhängigkeit, wenn Eltern das Essen zum PC bringen oder sogar Entschuldigungen für die Schule schreiben."

In Mainz haben 80 Prozent der 400 Patienten die ambulante Therapie beendet und sind weiterhin abstinent. Jeder Fünfte hat die Therapie abgebrochen. "Es ist ein neues Störungsbild. Selbst wenn die Zahl der Süchtigen nicht steigen wird, gehe ich davon aus, dass sich die Spielsucht gesellschaftlich etabliert", sieht Müller die zukünftige Entwicklung der Spielsucht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sie offiziell noch nicht als Krankheit anerkannt.

"Die Hilfe der Suchtambulanz konnten wir leider nicht in Anspruch nehmen, da unser Sohn bereits zu Hause ausgezogen war und wir keine Handhabe mehr hatten", erzählt eine betroffene Mutter gegenüber pro. Hendrik (Name von der Redaktion geändert) war 17 Jahre als er das Online-Rollenspielber zehn Millionen Abonnenten hat WoW weltweit, das monatliche Abo kostet zwischen 10 und 13 Euro. Das Spiel ist so angelegt, dass häufiges Spielen belohnt wird und unter den Mitspielern ein Gemeinschaftsgefühl entsteht.

"Wir hatten bei allen Kindern Regeln für ihre Computer-Nutzung erarbeitet und konnten uns eigentlich immer auf die Einhaltung verlassen", berichtet Hendriks Mutter. In den Sommerferien begann Hendrik zu spielen und nach einer längeren Diskussion entschieden sich die Eltern auch, ihm die notwendige Lizenz für das Spiel zu kaufen. "Der hohe Suchtfaktor des Spiels war uns Eltern nicht bekannt. Als wir uns informiert hatten, war es schon zu spät", sagt die Mutter und rät anderen Eltern, wachsam mit dem Thema umzugehen. "Eltern sollten sich wirklich damit beschäftigten, was ihre Kinder spielen. Da wir ein gutes Vertrauensverhältnis zu unserem Sohn hatten, hielten wir dies ursprünglich nicht für nötig."

Auch lange Gespräche mit dem Sohn nützten nichts. Das ernüchternde Fazit war, dass "wir unseren Sohn an World of Warcraft" verloren hatten. Fußball, Jugendkreis und Schule fanden nicht mehr statt. Der Sohn verliebte sich in eine Mitspielerin und verließ die Familie Knall auf Fall, um in die 200 Kilometer entfernte Stadt zu ziehen, wo er heute lebt.



Angst um das eigene Leben

Nicht nur bei seinem plötzlichen Auszug spielten sich unschöne Szenen ab. "Einmal hatte ich sogar Angst um mein Leben", gesteht die Mutter offen, als ihr Sohn sie in der Küche körperlich angriff. "Nach seinem Weggang hatten wir einige Monate gar keinen Kontakt mehr zu ihm. Es war wie Trauerarbeit", erklärt die Mutter. Sie selbst sieht es als Wunder an, dass der Sohn die Familie an Sylvester besuchte.

Es waren fünf harte Jahre für die Familie. "Die jüngere Schwester von Hendrik hat enorm gelitten unter seinem Weggang. Seine ältere Schwester hasst ihn noch heute dafür, was er der Familie angetan hat", berichtet die Mutter. Sie vermisst vor allem das fehlende Beratungsangebot für Eltern, das sie damals dringend nötig gehabt hätten. Noch heute ist die Sucht ihrer Meinung nach nicht wirklich im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen. Ihr Sohn hat sie fünf Jahre später immer noch nicht besiegt: "Er war besessen und nicht mehr wirklich er. Aber er beginnt wieder eine Struktur für sein Leben zu finden."

Heimowski, heute Prediger einer evangelischen Freikirche in Gera, hat den Ausstieg geschafft und ist erstaunt darüber, wie viel Gott in seinem Leben geheilt hat. "Für viele Süchtige ist es nach dem Ausstieg das Glück, nicht mehr Gefangener ihres eigenen Verhaltens zu sein", weiß Kai Müller von der Universität Mainz. "Sie können endlich wieder für Bereiche ihres Lebens Freude empfinden, die sie während der Sucht völlig vernachlässigt hatten." Ein Gefühl das vielen anderen verwehrt bleibt. (pro)

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