Sexuelle Übergriffe – geschützt durch Schweigespiralen

Beim Schauen des Films „Die Auserwählten“, der am Mittwochabend in der ARD lief, wird einem zwischenzeitlich übel. Doch nicht, weil er so schlecht gemacht wäre, sondern weil er so gut gemacht ist. Keine Ideologie ist gefeit davor, für sexuellen Missbrauch missbraucht zu werden.
Von PRO
Ulrich Tukur spielt im Spielfilm „Die Auserwählten“ den Schulleiter der Odenwaldschule, der kleine Jungen missbraucht

Der Film (in der ARD-Mediathek) handelt von den Missbrauchsfällen, die sich von den 1960er bis in die 1990er Jahre in der bekannten Odenwaldschule zugetragen haben. Man weiß mittlerweile von 132 Schülern, die an dieser renommierten Reformschule sexuell von Lehrern missbraucht wurden. Jedenfalls sind dies jene, die ihre Scham überwunden und öffentlich ausgesagt haben. Ob es weitere gibt, weiß man nicht. „Keiner der Täter wurde je für seine Verbrechen verurteilt“, klärt der Film im Abspann auf. Denn sexueller Missbrauch verjährt. „Nicht jedoch für die Betroffenen“, heißt es weiter. Statistisch gibt es in jeder Schulklasse mindestens ein Opfer.
Vor allem ist „Die Auserwählten“ des Regisseurs Christoph Röhl ein Film über ein Machtsystem, das den egoistischen Trieben von Erwachsenen ein Biotop eingerichtet hat. Ob in Kirchen, in Schulen oder Jugendgruppen – der Skandal liegt nicht nur im sexuellen Übergriff selbst, sondern an der erzwungenen Schweigespirale, welche es den Opfern und den Zeugen unmöglich macht, die Stimme zu erheben.
Der Regisseur war selbst von 1989 bis 1991 Englisch-Tutor an der Odenwaldschule. 2010 drehte er mit „Und wir sind nicht die Einzigen“ einen Dokumentarfilm über die dortigen Missbrauchsfälle, der für den Deutschen Fernsehpreis nominiert wurde. Nun folgt mit „Die Auserwählten“ ein Spielfilm, der am Originalschauplatz gedreht wurde.

Reiche Eltern zahlen – pädophile Lehrer nehmen sich, was sie wollen

Ulrich Tukur („Bonhoeffer – Die letzte Stufe“, „John Rabe“) spielt – wie gewohnt überragend glaubwürdig – den Schulleiter Simon Pistorius. Er gilt deutschlandweit als Vorzeige-Pädagoge, und seine Odenwaldschule hat einen legendären Ruf. Die zumeist wohlhabenden Eltern geben ihr Geld für einen angeblich so guten Unterricht aus, um sich in Ruhe ihrer Geldvermehrung widmen zu können. Dass ihr Kind, das sie auf der „besten Schule des Landes“ geparkt haben, womöglich seelisch Höllenqualen leidet und vielleicht sogar kurz vor einem Selbstmord steht, bekommen sie überhaupt nicht mit.
Nach außen halten die Lehrer die Ideale der Reformpädagogik hoch: „Nur das Wohl des Kindes steht im Mittelpunkt“, die Kinder sollen „in reiner Luft, unbekümmert und unverbogen, sich zu wahrem Menschentum entwickeln, bewahrt vor den Übeln der Zivilisation, von denen die Welt draußen voll ist“, wird der Begründer der Schule, Paul Geheeb (1870-1961), gerne zitiert.
Die Freiheit, welche die Schüler genießen, wird sofort offensichtlich: Sie rauchen und trinken Alkohol wie sie wollen, Noten gibt es nicht, die Klassen heißen „Familien“, und gemeinsames, beidgeschlechtliches Duschen gehört zum Alltag. Der Schulleiter läuft wie selbstverständlich im Morgenmantel durch die Schule, auch mit Nacktheit hat er kein Problem. Ein Lehrer hat eine Beziehung zu einer Schülerin.

Retterin in der Not – leider Fiktion

Doch unter der Oberfläche erkennt man ein gruseliges System der Macht, das der Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse pädophiler Lehrer dient. Der junge Frank Hoffmann wird vom Schulleiter Pistorius fast täglich missbraucht. Dafür bekommt er gute Noten und Geschenke. Muckt dieser auf, droht Pistorius ihm. „Pass auf, du kleiner Scheißer, sonst erzähle ich allen, was Du mit mir machst“, raunzt er den Jungen an, nicht ohne ihn gleich darauf zu küssen.
Die Eltern wollen nichts von den Vorwürfen wissen. Lieber glaubt man dem renommierten Pädagogen, als den Schülern. Zum Glück gibt es die neue junge Biologielehrerin Petra Grust (Julia Jentsch), die sehr bald die Übergriffe beobachtet. Doch ihre Kollegen wollen ebenfalls nichts von ihren Vorwürfen hören und lassen nichts auf ihr großes Vorbild Pistorius kommen. Die sexuellen Übergriffe werden gar als pädagogische Errungenschaft gefeiert. Als Franks Zimmergenosse etwas seiner Mutter erzählt, fliegt er wegen eines erfundenen Drogenfalls von der Schule. Und auch der Biologielehrerin Grust droht der Schulleiter, als sie plant, die Missbrauchsfälle öffentlich zu machen.
Leider handelt es sich bei der Lehrerin um eine fiktive Person. Dennoch identifiziert sich der Zuschauer mit ihr und wünscht sich, man selbst würde in einer Situation wie der ihren genug Mut aufbringen. Der Film zeigt auf beeindruckende Weise den Konflikt, in dem die Lehrerin steht: Bringt sie tatsächlich den Mut auf, die Fälle bekannt zu machen, steht ihre eigene Karriere auf dem Spiel. Ebenso ist ihr Freund, Journalist einer Zeitung, gefangen und machtlos, weil ihm die Karriere wichtiger ist als Aufklärung über die Zustände an der Odenwaldschule.
Übrigens: Im wirklichen Leben war der Schulleiter in jener Zeit Gerold Becker, der von unabhängigen Gutachtern als „Haupttäter“ der sexuellen Übergriffe bezeichnet wurde. Becker, der 2010 in Berlin starb, hatte Evangelische Theologie studiert und arbeitete mehrere Jahre im kirchlichen Dienst.
Es erscheint wie ein weiterer Skandal, dass es über 30 Jahre gedauert hat, bis die Fälle öffentlich diskutiert wurden. Doch die Opfer verlieren schlichtweg ihre Sprache, und die Scham kann über 30 Jahre anhalten. Man wünscht sich viele Petras, Menschen, die sich nicht von den allseits anerkannten Strukturen, die sie vorfinden, einlullen lassen. Sondern immer noch am inneren Kompass erkennen, was moralisch richtig und was falsch ist. Viele Kinder weltweit wären froh, wenn es mehr Personen wie die Lehrerin gäbe, die Alarm schlagen, wenn ihnen Unrecht angetan wird. Und es passiert ständig, irgendwo auf der Welt. Vielleicht dient der Film „Die Auserwählten“ dazu, mehr Menschen aufzuwecken, die in einer Schweigespirale gefangen sind. (pro)

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