„Second Life“: Wie Realität und virtuelles Leben verschmelzen

Online-Rollenspiele sind auf einem ungeahnten Erfolgskurs, Internetwelten erobern die Medien. Das Spiel "Second Life" ("Zweites Leben") ist dafür ein Paradebeispiel: Menschen basteln sich in der Online-Welt neue Identitäten. Jetzt haben auch Unternehmen die Massen als Zielgruppe erkannt, die sich in der virtuellen Welt tummeln – und bieten eigene Zeitungen, Fernsehprogramme und Produkte.
Von PRO

Bei „Second Life“ (kurz: SL) gestalten sich Menschen eine virtuelle Spielfigur, einen „Avatar“. Sie leben im Internet, richten sich ein, bauen sich eine Existenz auf. Mit allem, was dazu gehört: Ein „Avatar“ kann dort durch Arbeit, Glücksspiel oder Handel zu Geld kommen. Hat er genug virtuelles Geld verdient, kann er sich ein Grundstück und ein Haus kaufen, das in „Second Life“ wie im echten Leben angeboten wird. Spieler können sich ihre Wohnungen mit allem ausstatten, was sie sich auch im realen Leben wünschen.

Anders als bei anderen so genannten „Massive Multiplayer Online Rule Games“ ist „Second Life“ jedoch keine aufregende Fantasywelt, in der Fabelwesen bekämpft werden – sondern ein Abbild der realen Welt. Computerspiel-Experten kritisieren zwar die einfache Grafik und Animation, dennoch kreieren die Nutzer unaufhaltsam neue Lebenswelten. Spieler können jederzeit neue Gegenstände programmieren und im Spiel einsetzen – auch einkaufen mit virtuellem Geld ist möglich. Die dortige Währung, der „Linden Dollar“, kann zu einem Kurs von 320:1 in einen US-Dollar umgetauscht werden. Für 10.000 Lindendollar erhält man zurzeit umgerechnet 32 Euro.

Springer gründet „Second Life News“

Nun nutzen die ersten Medien- und Wirtschaftsunternehmen den virtuellen Markt. Der Springer Verlag hat bereits eine Art virtuelle „Bild“-Zeitung angekündigt. Mit „SL-News“ kommt die „Second Life“-Welt in den Genuss einer Zeitung in englischer Sprache, die wöchentlich erscheint. Der Preis für das Produkt ist noch unklar: Werte zwischen 15 und 27 Lindendollar wurden bisher angekündigt. Reporter sollen von den wichtigsten Ereignissen in „Second Life“ berichten. Dafür will Springer angeblich ein virtuelles Verlagsgebäude errichten. Der Markt der potentiellen Leser ist groß: Es gibt mittlerweile 1,2 Millionen SL-Spieler, Tendenz steigend. Die Nachrichtenagentur „Reuters“ hat bereits einen Korrespondenten, der eigens aus der Parallelwelt berichtet.

Big Brother im Online-Spiel

Die niederländische Fernsehproduktionsfirma Endemol setzt das Original Big Brother-Konzept in der virtuellen Welt ein: 15 Teilnehmer aus aller Welt – besser gesagt deren „Avatare“ – werden in ein virtuelles Glashaus gesperrt und müssen dort einen Monat „leben“. Dazu ist es notwendig, dass die Teilnehmer mindestens acht Stunden pro Tag eingeloggt sind. Wie in der TV-Vorlage werden die anderen Spieler über den Verbleib oder Rausschmiss abstimmen. Der Gewinner erhält eine unbewohnte Insel in der „Second Life“-Welt. Laut Endemol will man dieses Projekt dazu nutzen, um Erfahrung im Online-Bereich zu sammeln. Die Ergebnisse dieses Tests sollen Basis für weitere Aktionen und Inhalte in diversen Internet-Gemeinschaften sein.

„Second Life“ bekommt deutschen TV-Sender

Der bisher wenig bekannte Internet-Sender „Bunch TV“ hat zudem angekündigt, Ende Januar ein Fernsehprogramm in „Second Life“ zu starten. Das Fernsehen soll synchron zur realen Welt laufen. „Second Life“-Spielteilnehmer können das Angebot kostenlos und überall empfangen, teilte das Unternehmen mit. „Bunch TV“ wolle auf diese Weise neue Marketing-Möglichkeiten ausprobieren und den eigenen Sender bekannter machen, so Firmensprecherin Lisa Marahiel.

Neben den privaten Nutzern investieren auch Firmen wie Adidas, Toyota, Reebok, IBM und andere in virtuelle Firmengebäude und Waren. Autohersteller nutzen virtuelle Realitäten zur Simulation und zum Testen von neuen Modellen.

Fazit des Hypes: Die Grenzen zwischen der Internetwelt und dem realen Leben verschwimmen mehr denn je. Laut Medienberichten steigt die Zahl der Menschen, die ihre Stelle im realen Leben gekündigt haben und ihren Lebensunterhalt in „Second Life“ verdienen. Seit kurzem gibt es auch die erste Millionärin: Die Deutsch-Chinesin Ailin Gräf betreibt unter dem Namen Anshe Chung einen schwunghaften Handel mit virtuellen Immobilien. Sie hat damit bisher eine Million US-Dollar verdient.

Wohin wird die Entwicklung der virtuellen Realitäten führen?

Was früher ein Teilbereich der Freizeitgestaltung war, wird mehr und mehr zum Ersatz für echtes Erleben und reale Begegnungen. Wer im wirklichen Leben erfolglos ist, entflieht in die konstruierte Welt. Dort findet er neue Freunde, erlebt Erfolge und Anerkennung – typische Begleiterscheinungen aller Computer-Rollenspiele.

Menschen werden von der künstlichen Welt so gefesselt, dass sie nach und nach den Bezug zur realen Welt verlieren – haben sie doch ein virtuelles Zuhause. All dies birgt einen nicht zu unterschätzenden Suchtfaktor. Die Berliner Charité hat in einer Studie nachgewiesen, dass Internet- und Computerspiel-Abhängigkeit zu der Kategorie der Verhaltenssucht gehören und therapiebedürftig sind.

Neu bei „Second Life“ ist die Vermischung aus echtem und ausgedachtem Leben. Mit ihren Niederlassungen in „Second Life“ greifen Medien und Wirtschaftsunternehmen den Trend auf, damit werten sie „Second Life“ auf und erkennen es als Bestandteil des Alltagsgeschehens an. Noch kann man die Schritte der Unternehmen in die virtuelle Welt als Experimente betrachten. Viele Spieler sind über dieses Stadium allerdings längst hinaus – es ist längst ein fester Bestandteil ihres wirklichen Lebens.

Vielleicht legt sich die ganze Aufregung wieder und auch Big Brother wird ein virtueller Flop. Sollten die SL-News keine Gewinne einbringen, wird auch dieses Verlagshaus verkauft. Möglicherweise gehen dann die Menschen wieder real mit ihrem Partner spazieren, statt es nur auf dem Bildschirm zu tun.

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