Schreiben über „spirituelle Obdachlosigkeit“

Erleben wir eine Renaissance der Religion, oder verdunstet der Glaube in unserer Gesellschaft mehr und mehr? Um dieser Frage nachzugehen, führte die Schweizer Tageszeitung "Der Bund" einen Schreib-Wettbewerb durch. Das Motto lautete: "Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn."
Von PRO

"Die Medien berichten regelmässig über boomende Sekten, Freikirchen und den Trend zu esoterischen Privatreligionen", stellte die Zeitung "Der Bund" Ende des vergangenen Jahres fest. Gleichzeitig schwinde die Anziehungskraft der Institution Kirche immer mehr. Die Zeitung wollte daher wissen, wie es um die Religiosität der Gesellschaft steht. Die Berner Tageszeitung rief zu ihrem sechsten Essay-Wettbewerb auf und bat ihre Leser dazu, über den Glauben zu schreiben. Das Echo war enorm.

Bis zum Einsendeschluss am 31. Dezember 2011 trafen Texte von 221 Essayisten aus der Schweiz, aus Österreich und aus Deutschland in Bern ein. Das Motto des Wettbewerbs geht zurück auf den englischen Schriftsteller Julian Barnes, der die Gretchenfrage nach seinem Glauben wie folgt beantwortete: "Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn". Die Berner Zeitung schrieb in ihrem Aufruf: "Eine diffuse Trauer verspürt der aufgeklärte Mensch ob eines schwer fassbaren Verlusts. Spirituelle Obdachlosigkeit ist weit verbreitet."

Das Thema des Essay-Wettbewerbs im vergangenen Jahr hatte deutlich weniger Reaktionen hervorgerufen, teilte die Zeitung mit. Damals war das Thema Chancen und Gefahren der sozialen Medien vorgegeben worden. Die vergleichsweise große Resonanz in diesem Jahr erklären sich die Journalisten so: "Viele Menschen ringen in unserer säkularen Multioptionsgesellschaft mit dem Thema Glauben."

Verabschiedet von der Kirche, aber nicht von der Gottesfrage

Die drei Sieger waren laut "Bund" der Pfarrer Michael Graf aus der Region Bern, der in Zürich lebende Schriftsteller Gerhard Meister und die deutsche Autorin Sabine Frambach, die mehrfach bei  Literaturwettbewerben ausgezeichnet worden ist. Am 14. März fand in Bern die Preisverleihung sowie die Lesung der Siegertexte statt. Die Preise waren mit insgesamt 6.000 Franken (etwa 5.000 Euro) dotiert. Die Gewinnertexte werden am 17., 24. und am 31. März im "Kleinen Bund" abgedruckt, dem Kulturteil der Schweizer Zeitung mit einer Auflage von etwa 50.000.

Die drei Texte spiegeln laut der Zeitung die unterschiedlichen inhaltlichen Positionen wider. Vom 18-jährigen Teenager bis zur 82-jährigen Grossmutter seien alle Altersgruppen vertreten gewesen. Die Texte reichten "von der theologisch anspruchsvollen Mediation über eine respektlose Leerung des ‚Glaubensphrasenschweins‘ bis zur prägnant formulierten Kritik am scheinbar glücklichen Aufgeklärten, der seine spirituelle Obdachlosigkeit mehr oder weniger erfolgreich zu verdrängen versuche".

In der Jury saßen "Bund"-Chefredakteur Artur K. Vogel, der "Reformiert"-Redakteurin Rita Jost und der Pfarrer und Kirchenhistoriker Marc von Wijnkoop. Die Jury war laut der Zeitung "beeindruckt von der Qualität und der Ernsthaftigkeit" der eingereichten Texte. Sie konstatierte zudem: "Überraschend häufig waren Essays, die in einen veritablen Massnahmekatalog für eine erneuerte und glaubwürdigere Kirche – sowohl katholischer wie evangelischer Ausrichtung – mündeten."

Jury-Sprecherin Jost sagte, die Lektüre der Essays hätte ihr vor Augen geführt: "Wer sich am Sonntag nicht mehr in den Gottesdiensten blicken lässt oder gar aus der Kirche ausgetreten ist, der hat sich nicht automatisch von den grossen Fragen verabschiedet." (pro)

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