Rocco Buttiglione: „Gegen eine Kultur des Nichts“

Er ist ein Konservativer und ein Katholik: Rocco Buttiglione machte vor fünf Jahren Schlagzeilen, weil er Überzeugungen seiner Kirche im Europäischen Parlament vertrat. Das kostete ihn den angestrebten Job als EU-Komissar. Die pro-Autoren Wolfgang Baake und Andreas Dippel haben sich mit dem italienischen Politiker und Professor über gegenwärtige und vergangene Debatten unterhalten.
Von PRO

pro: Herr Buttiglione, wie christlich ist Europa eigentlich?

Rocco Buttiglione: Die Europäer sind nicht Christen, aber auch nicht Nicht-Christen. Europa schwebt zwischen Glauben und Unglauben. Wobei die Grenze zwischen Glauben und Unglauben im Herzen eines jeden Menschen verläuft. Wir haben in Italien folgende Erfahrung gemacht: Vor etwa 30 Jahren haben die Italiener in einer Volksabstimmung über Ehescheidung und Abtreibung entschieden. Die römischen Bischöfe waren sehr davon überzeugt, dass die Italiener in der Mehrheit Christen sind und meinten, das Volk werde schon auf die Meinung der Kirche hören. Doch das ist nicht eingetreten: Die Italiener haben sich damals für die Ehescheidung und Abtreibung ausgesprochen. Nicht wenige Bischöfe und Kirchenvertreter haben resigniert und meinten damals, ein Kampf für die christlichen Werte in der Gesellschaft lohne sich nicht mehr, weil solch ein Kampf schon von Anfang an verloren scheint. 1995 aber fand eine weitere Volksabstimmung über Bioethik statt. Und überraschender Weise scheiterte das Referendum, das etwa eine Liberalisierung der künstlichen Befruchtung vorsah. Der Grund: Wir haben in der Zwischenzeit eine religiöse Erneuerung der Gesellschaft erfahren – und das nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa. Wir leben dennoch in einer Zeit, in der die Christen mehr denn je bereit sein sollten, für ihren eigenen Glauben Zeugnis abzulegen. Und dabei ist es immer möglich, dass die Mehrheit dieses Zeugnis annimmt oder eben nicht. Die Kämpfe aber, die nicht geführt werden, sind ganz sicher verloren. Ich stelle mir oft die Frage: Wie christlich war Europa eigentlich früher? Manche von uns träumen von einem Europa, in dem alle Christen waren. Aber hat es jemals ein solches Europa gegeben? Denken wir nur an die Zeit vor 70 Jahren, als in Europa Krieg geführt wurde und als Juden verfolgt wurden. Jede Generation ist mal näher, mal weiter entfernt vom christlichen Glauben. Daher muss jede Generation für den Glauben eintreten, denn die Hindernisse für das Leben einer Gesellschaft nach christlichen Werten sind in jeder Generation unterschiedlich. Aber die Notwendigkeit, für den Glauben einzutreten, bleibt – für jede Generation.

pro: Wird die Bezeichnung von Europa als christlichem Abendland überhaupt noch von der Mehrheit der Politiker oder Bürger Europas geteilt?

Rocco Buttiglione: Selbstverständlich haben die christlichen Wurzeln Europas heute noch eine Bedeutung. Denken Sie nur einmal an die Theorien Sigmund Freuds, der nicht gerade ein Anhänger der Kirche war. Er meinte, dass der Mensch eine ursprüngliche Zweideutigkeit besitzt, dass alles, was wir tun, zwischen dem Guten und dem Bösen angesiedelt ist. Das ist eine grundsätzlich christliche Vorstellung. Freud betonte außerdem die Bedeutung von Vater und Mutter für die Persönlichkeitsentwicklung, eine ebenfalls christliche Vorstellung. Auch Menschen, die keinerlei Bezug zum Glauben haben, haben durch diese ursprünglichen Erfahrungen in ihrer Kindheit eine Idee des Menschen und seiner Beziehung in einer Familie erhalten – nicht durch Vorlesungen an Universitäten, sondern über den unmittelbaren Kontakt zu Vater und Mutter. Freuds Theorien gehören freilich zur jüngeren Geschichte Europas, aber dennoch zu dessen Erbe. Wir können uns mit diesem Erbe kritisch auseinander setzen, aber wir können nicht so handeln, als ob wir dieses Erbe nicht hätten. Denn dann verlieren wir unsere schöpferische Kraft, die immer aus der Beschäftigung mit unserer Tradition, den Werten unserer Vergangenheit, hervorgeht.

pro: Wobei zur Tradition eines christlichen Europas nicht nur Freuds Theorien gehören, oder?

Rocco Buttiglione: Natürlich nicht. Nehmen wir doch einfach die Steine, die Denkmäler, die historischen Gebäude in allen Teilen Europas: Es sind überwiegend christliche Gebäude wie Kirchen oder Kathedralen. Auch in der Literatur finden sich zahllose Hinweise auf die christliche Tradition Europas – und damit meine ich noch nicht einmal die christliche Literatur. Herman Melville hat in „Moby Dick“, dem Klassiker über einen Waljäger auf hoher See, immer wieder Bezüge zur Bibel genommen. Und freilich verstehen wir ohne Kenntnisse der Bibel auch die Werke Goethes, Wagners, Dantes, Dostojewskis, Tolstois und aller anderen großen Dichter, Komponisten und Denker des christlichen Abendlandes nicht.

pro: Auf einer Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad-Kreuth haben Sie kürzlich in einem Vortrag gesagt: „Der Kampf um Europa beginnt in der eigenen Seele.“ Wie meinen Sie das?

Rocco Buttiglione:Von Goethe stammt die Aufforderung: „Was du von deinen Ahnen hast geerbt, musst du gewinnen, um es wirklich zu besitzen.“ Wir müssen uns mit unserer christlichen Vergangenheit auseinander setzen, und nur über diese Auseinandersetzung können wir die Erneuerung des Glaubens in unserer Generation gewinnen – oder uns in die entgegengesetzte Richtung bewegen. Doch das, was wir von unseren „Ahnen“ geerbt haben, ist ein christliches Erbe. Wir sind mit dieser Vergangenheit aufgewachsen und können freilich versuchen, diesem Erbe eine andere Gestalt zu verleihen. Doch wenn wir das christlich-jüdische Erbe Europas beiseite schieben, bleibt nichts. Die große Gefahr unserer Kultur ist dabei tatsächlich, dass sie eine Kultur des Nichts wird. Und in dieser Kultur geht unsere Menschheit, unsere Menschlichkeit, verloren.

pro: In einigen europäischen Ländern laufen derzeit Aktionen von Atheisten, die Menschen auf Plakaten sagen: „Es gibt wahrscheinlich keinen Gott.“ Was halten Sie davon?

Rocco Buttiglione: Diese Aktionen sind lächerlich und Überbleibsel eines Zeitalters, das schon vergangen ist. Es gab schon einmal eine Zeit, in der behauptet wurde, die Wissenschaft solle Gott ersetzen und könne alle Fragen und Geheimnisse der Menschheit beantworten und aufdecken. Die Wissenschaft wurde zum neuen Gott erhoben. Doch die Wissenschaften können den Menschen, seine Herkunft und sein Ziel, nicht erklären – das können nur Kultur, Philosophie, Literatur und Religion. Auch für die Politik hat das Konsequenzen. Sowohl im nationalsozialistischen als auch kommunistischen Staat war die Wissenschaft die Religion. Eine Demokratie aber braucht Werte, die in der Politik nicht hergestellt werden. Diese Werte kommen aus einer anderen Dimension – der Kultur oder Religion. Die letzten Fragen auch nach Gott kann die Wissenschaft nicht beantworten.

pro: Sie erregten vor fünf Jahren, im Jahr 2004, große Aufmerksamkeit auch in den Medien. Als damaliger Kandidat für den Posten eines EU-Kommissars haben Sie sich öffentlich zur Lehre der katholischen Kirche bekannt und etwa Homosexualität als Sünde bezeichnet. Deswegen wurden Sie nicht mehr EU-Kommissar, obwohl Sie Ihre Meinung ausdrücklich als eine private Glaubensüberzeugung bezeichneten. Wie haben Sie die Debatte um Ihre Person damals empfunden?

Rocco Buttiglione: Es war schmerzhaft, aus zwei Gründen. Ich wollte kein besonderes Zeugnis ablegen, sondern nur EU-Kommissar werden. Doch ich konnte nicht auf meinen Glauben und auch nicht auf meine menschliche Würde verzichten. Ich wollte damals nichts sagen, was nicht nur meiner persönlichen Überzeugung, sondern auch dem Katechismus meiner Kirche widerspricht. Das konnte ich nicht tun. Es gibt Wichtigeres im Leben als den Posten des EU-Kommissars. Angesichts der massiven Debatte auch in den Medien habe ich mich damals sehr alleingelassen gefühlt. Besonders schmerzhaft war es, dass jedes Wort, das ich gesagt habe, missverstanden wurde. Es gab eine Kampagne, die gegen mich gerichtet war. Damals dachte ich übrigens, dass meine politische Karriere am Ende ist. Doch es gab auch die andere Seite der Medaille: Viele Menschen und Freunde haben mich in Gesprächen und Briefen unterstützt. Auch frühere Freunde, mit denen ich mich während meiner politischen Laufbahn zerstritten hatte, haben mich unterstützt.

pro: Ihre politische Karriere war aber nicht zu Ende, Sie sind heute einer der Vizepräsidenten des italienischen Parlaments.

Rocco Buttiglione: Damals habe ich in einer öffentlichen Kampagne versucht, meine Positionen zu erklären. Und diese Kampagne war der Vorläufer für die erfolgreiche Volksabstimmung über Bioethik. Ich hatte damals den Eindruck, dass wir uns am Anfang einer neuen Etappe nicht nur in Italien, sondern auch in Europa befinden. So wurde auch aus meiner damaligen persönlichen Niederlage doch noch ein Sieg.

pro: Sie selbst waren vor Ihrer Karriere in der Politik zuletzt Professor für politische Philosophie, gründeten im Fürstentum Liechtenstein die Internationale Akademie für Philosophie und lehrten dort unter anderem Wirtschaft und Politik. Zudem waren Sie bis 1994 Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität St. Pius V. in Rom. Wie schätzen Sie die Ursachen der Weltwirtschaftskrise ein? Ist eine der Ursachen für diese Krise auch eine vorangegangene Wertekrise in der Wirtschaft?

Rocco Buttiglione: Die aus meiner Sicht beste Antwort auf Ihre Frage hat Papst Benedikt XVI. gegeben: „Das Geld ist nicht der wahre Gott.“ In den vergangenen Jahren wurde, salopp formuliert, behauptet, Geld vermehre sich wie die Kaninchen. Doch um Geld zu vermehren, muss Geld arbeiten, das heißt, Güter müssen hergestellt werden, die gebraucht und gekauft werden. Von alleine vermehrt sich Geld nicht. Doch in der Wirtschaft hat sich der Glaube durchgesetzt, diese Grundsätze gehörten zur „alten Ökonomie“. Die neue Form des Wirtschaftens, die Finanzökonomie, meinte, auf die menschliche Arbeit verzichten zu können. Für derartige Theorien haben einige Gelehrte sogar Nobelpreise gewonnen. Doch diese „neue Ökonomie“ ist schlicht zusammengebrochen – was aus meiner Sicht eine epochale Bedeutung darstellt. 1989, im Jahr des Mauerfalls, habe ich in einem Artikel für eine italienische Zeitung geschrieben, dass das große Zeugnis der Völker und Christen den Kommunismus besiegt habe. In einem anderen Beitrag schrieb ein Autor jedoch, dass nicht das Chris-tentum, sondern der Kapitalismus gesiegt habe. Damit hatte er Recht – über einen Zeitraum von 20 Jahren. Doch jetzt ist auch die Form des Kapitalismus zusammengebrochen, in dem der Mensch kein Wert, kein Ziel an sich ist. Die Wirtschaft muss jetzt nach den Maßstäben der sozialen Marktwirtschaft aufgebaut werden, die den Menschen respektiert und ihn nicht dem Götzen des Kapitalismus als Opfer darbringt. Das ist eine der zentralen Aufgaben der gegenwärtigen Politik.

pro: Vielen Dank für das Gespräch!

Rocco Buttiglione wurde 1948 im süditalienischen Apulien geboren und ist Politiker der Partei „Unione di Centro“. Seit 1994 ist Buttiglione Abgeordneter im italienischen Parlament, 1999 wurde er Mitglied des Europäischen Parlaments. Im zweiten Kabinett von Ministerpräsident Silvio Berlusconi war er Europaminister (2001–2005), im dritten Kabinett Kulturminister (2005–2006). Seit Mai 2008 ist Buttiglione einer von vier Vizepräsidenten der italienischen Abgeordnetenkammer. Im August 2004 nominierte ihn Italien als Vizepräsident der Europäischen Kommission und Kommissar für Justiz, Freiheit und Sicherheit. Aufgrund seiner Ansichten über Homosexualität und die Stellung der Frau in der Gesellschaft während einer Anhörung im EU-Parlament wurde Buttiglione als erstes designiertes Mitglied der ab November 2004 amtierenden EU-Kommission von einem Ausschuss der EU abgelehnt. Er verzichtete schließlich freiwillig auf das Amt. Buttiglione ist verheiratet und hat vier Kinder. Er spricht Deutsch, Englisch, Französisch, Polnisch, Portugiesisch und Spanisch.

Dieses Interview lesen Sie auch in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro

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