Restrisiko

Die dramatischen Ereignisse nach dem Tsunami in Japan haben uns erneut die Zerbrechlichkeit unserer Welt vor Augen geführt. Der Schock sitzt tief, die Hilflosigkeit ist bedrückend. Aber es gibt keine einfachen Lösungen und vorschnelle Schuldzuweisungen helfen nicht. Es gibt keine risikofreie Energie. Alles hat Nebenwirkungen in dieser Welt. Ein Gastkommentar von Jürgen Mette.
Von PRO

Ohne Restrisiko sei nun mal der Planet Erde nicht mit Energie zu versorgen, sagte achselzuckend und lapidar der Experte vor der TV-Kamera. Restrisiko nennt man also den Zustand, wenn sich zwei Kontinentalplatten ein wenig verkanten und eine gigantische Flutwelle auslösen, tausende Menschenleben fordern, zigtausende Menschen verletzen, hunderttausende obdachlos machen und Millionen von Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Restrisiko! Da reißt die Energieversorgung ab, die die Kernkraftwerke zur Kühlung der Reaktoren brauchen. Die absolut sicher gewähnten Reaktorhüllen sind vom Erdbeben so beschädigt, dass die Brennstäbe schmelzen und sich durch die Fundamente ins Erdinnere kochen und draußen strahlenverseuchte Landstriche zurücklassen. Horrorszenarien, die keiner zu Ende denken will. Und die Experten reden vom Restrisiko. Klingt harmlos, aber es gibt uns den Rest. Und was uns den Rest gibt, das macht uns wach. Das Erdbeben in Haiti hat uns berührt, die Katastrophe in Japan aber erschüttert. Wie Tschernobyl vor 25 Jahren.

Bei aller Erschütterung spüre ich das wachsende Misstrauen gegenüber parteipolitischer Taktik, den schnellen Diagnosen und Schuldzuweisungen bei der wichtigen Frage, was energiepolitisch vernünftig ist. Schon beeilen sich diejenigen, die für die Reaktorsicherheit zuständig sind, Sicherheitsprüfungen bei allen Atommeilern anzuordnen. Und zum ersten Mal wird von Abschalten geredet, weil man das Restrisiko nicht ausschalten könne.

Aber warum erst jetzt? Weil Europa nicht Japan ist und weil unsere Reaktoren die sichersten der Welt seien. Sagt man. Erdbeben in Biblis? Völlig ausgeschlossen! Bomben auf unsere Reaktoren? Absurd! Unverantwortliche Panikmache! Aber ein Restrisiko könne keiner ausschließen, sagen die Experten. Wir haben es ja auch gewusst. Nur dass es bisher eher gedämpft bei uns ankam, wenn am anderen Ende der Welt die Erde bebte. Vielleicht auch, weil es meistens die traf, die ohnehin auf der Schattenseite der Welt leben. Doch die Schlagzahl der Chaos-Meldungen nimmt rasant zu. Und jetzt ist eine der bedeutendsten Wirtschaftsnationen betroffen. Das Land, das ohne Kernenergie nicht existieren kann, das Land mit dem höchsten Erdbebenrisiko, mit der größten Bevölkerungsdichte und der größten Dichte von Kernkraftwerken. Alles dicht! Alles wohlhabend, alles erfolgreich – und alles voller Restrisiken.

In seinem Kalkar-Urteil von 1978 hat der Bundesgerichtshof klargestellt, was ein Restrisiko ist. Die Bevölkerung habe mit der Nutzung der Kernenergie eine sozialadäquate Last zu tragen. Das Gericht sprach von hypothetischen Risiken, die nach dem Stand der Wissenschaft unbekannt, aber nicht auszuschließen seien. Klar: hypothetisch, aber sozialadäquat. Wer es warm haben will, muss damit rechnen, dass der Ofen umfällt und die Hütte abbrennt und man danach ziemlich friert. Restrisiko eben. Und „sozialadäquat“ heißt, dass es viele gleichzeitig trifft und dass es zumutbar ist, wenn man es unbedingt warm haben will.

Aber in Japan verbrennen nicht nur die Kernstäbe. Es verbrennt der Glaube an eine sichere, machbare Zukunft und an unbegrenztes Wachstum. Der Boden unserer vermeintlichen Sicherheit wackelt mächtig, wir bekommen eine Ahnung von der Verletzlichkeit der Schöpfung, die durch Maßlosigkeit zunehmend ausgeraubt wird.  
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat unsere Lage treffend beschrieben: „Die Menschen sind Zukunftsatheisten. Sie glauben nicht an das, was sie wissen, selbst wenn man es ihnen stringent beweist, was kommen muss.“ Wir haben es gewusst, nicht erst seitdem es ein geschärftes Umweltbewusstsein gibt. Jesus Christus selbst prophezeit in seinen Endzeitreden unter anderem die Zunahme von globalen Konflikten, Hungersnöten, einer extremen Verachtung von Recht und Gerechtigkeit und auch von Erdbeben (Matthäusevangelium, Kapitel 24).

Man hat es gewusst, dass der Bau von Kernkraftwerken auf spannungsreichen Kontinentalplatten riskant ist. Und als der Golf von Mexiko nach der Explosion der Ölplattform „Deepwater Horizon“ gebrannt hat, war allen klar, dass das nicht die letzte große Krise war, mit der sich die Welt auseinandersetzen muss. Wir leben über unseren Verhältnissen, das braucht Energie. Und wir leben auf Kosten der künftigen Generationen. Im Jahr 2010 wurden in Deutschland knapp 40 Milliarden allein an Zinsen für unsere Staatsschulden bezahlt. Das würde genügen, um ausreichende Lebensmittel für alle Hungernden in dieser Welt bereit zu stellen. Seit Ausbruch der Finanzkrise ist die Verschuldung der Welt um 45% auf 50 Billionen Dollar gestiegen. Auch eine Art Restrisiko! Damit die Weltkonjunktur flott bleibt, wird weiter Kohle, Gas und Öl verbraucht – Energien, die man nur einmal verbrennen kann. Es wird in absehbarer Zeit noch nicht ohne riskante Kernkraft gehen, von der wir alle mehr oder weniger profitieren. Aber die Nationen sind wach geworden.

Apokalypse heißt Enthüllung, nicht Weltuntergang. Gottes Wort enthüllt die Hybris, den Hochmut und die Wachstumseuphorie, die Maßlosigkeit und die Verletzungen des Öko-Systems. Kein Mensch verursacht ein Erdbeben, aber der Mensch ist von Gott beauftragt, diese Welt weise zu bebauen, zu kultivieren, zu ernten und zu schonen, eben nicht alles bis zur Neige auszupressen. Dazu brauchen wir Demut vor Gottes wunderbarer Schöpfung, ein neues Maß, ein Tempo, das nicht immer am Limit fährt, ein Hören auf Gott und sein Wort, eine Innehalten zur Prüfung unserer Motive. Was trägt mein Leben, wenn das Restrisiko meiner Existenz offenbar wird, wenn Krankheit und Angst vor dem Tod an mir zerren? Das Restrisiko ist das, was ich nicht beherrsche, es ist das, was mich beherrscht. Wie auch immer man die Katastrophe von Japan bewerten wird, in jedem Fall ist sie ein Signal zur Buße, zur Absage an den Zukunftsatheismus. Gott wacht über seiner Schöpfung, aber er setzt auch ernste Zeichen seines Gerichtes über alle Maßlosigkeit seiner Geschöpfe. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir uns unserer Verantwortung vor Gott stellen und sein Wort wieder ernst nehmen.

"Gott blickt vom Himmel herab auf die Menschen, ob noch ein Verständiger da ist, der Gott sucht … Sie essen Gottes Brot, doch seinen Namen rufen sie nicht an."
(Die Bibel: Psalm 53,3-5)

Jürgen Mette ist Geschäftsführender Vorsitzender des Stiftungsvorstandes der Stiftung Marburger Medien (www.marburger-medien.de). (pro)

http://www.marburger-medien.de/
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