Religionswissenschaftler: „Christen – fürchtet euch nicht!“

Der Islam breitet sich aus, auch in Deutschland. Das zumindest glauben viele Menschen. Das Gegenteil ist der Fall, sagt der Religionswissenschaftler Michael Blume. Im Gespräch mit pro erklärt der Wissenschaftler, warum der Islam in einer Krise steckt und wo die Ursachen dafür liegen. Die Fragen stellte Norbert Schäfer
Von PRO
Michael Blume, Jahrgang 1976, ist als Religionswissenschaftler Referatsleiter für die nichtchristlichen Religionen und Minderheiten im Staatsministerium Baden-Württemberg. Der evangelische Christ ist verheiratet mit einer Muslimin. Blume hat 2017 das Buch „Islam in der Krise: Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug“ veröffentlicht.

pro: Herr Blume, eine These in Ihrem Buch „Islam in der Krise“ lautet, dass sich der Islam auf einem stillen Rückzug befindet. Warum ist das Ihrer Meinung nach der Fall?

Michael Blume: Sie können aus dem Islam nicht austreten. Es gibt keine Stelle, an die Sie sich wenden könnten. In vielen Ländern ist der mit dem Tod bedroht, der sich vom Islam abwendet: Deswegen ist die häufigste Reaktion unter Muslimen, dass sie sich still zurückziehen. Sie halten sich fern von den Moscheen und den Frommen, sie reduzieren ihre Gebete oder beten gar nicht mehr. Vielleicht sagen sie es im Freundeskreis, aber das wird nach außen nicht sichtbar. Das nenne ich den stillen Rückzug. In Statis-tiken werden nur die Kirchenmitglieder als Christen erfasst, aber alle Menschen muslimischer Herkunft als Muslime. Wenn wir das in Sachsen machen würden, hätten wir 90 Prozent Christen dort, weil sie christliche Vorfahren haben und Weihnachten feiern.

Im Bundestagswahlkampf dieses Jahr beklagten die Rechtspopulisten allerdings eine schleichende Islamisierung.

Wir hier haben Angst vor Islamisierung, die muslimische Welt vor Verwestlichung und Christianisierung. Beispielsweise in der Türkei geht man gegen das beliebte Weihnachtsfest vor, in Pakistan gegen den Valentinstag. Die Daten zeigen: Die islamische Welt säkularisiert sich und etwa das Regime im Iran wird nur noch durch Gewalt zusammengehalten. Natürlich sehen wir in den Medien die Lauten und die Radikalen, aber unter dieser Wahrnehmung ist ein ganz großer Teil, der sich aus der Religion zurückzieht. Deswegen hat der Islamisierungsmythos keine Basis in den wissenschaftlichen Daten.

Welche Auswirkungen haben die Sozialen Medien auf den Säkularisierungsprozess?

Salafisten nutzen Soziale Medien sehr intensiv. Das ist interessant, weil ein Salafist im 19. Jahrhundert nie ein Bild von sich angefertigt hätte. Pierre Vogel und Co. können gar nicht genug kriegen von Facebook und Co. und präsentieren sich. Nur den Frauen verbieten sie es noch. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, dass innermuslimische Kritik verstärkt im Netz stattfindet. Es bilden sich Gruppen von Ex-Muslimen, Atheisten. Islamkritiker wie Hamed Abdel-Samad haben viele Fans und Follower in den Sozialen Medien, auch in der islamischen Welt. Nur die Leute in der Mitte, die wachsende Glaubenszweifel haben, bleiben meis-tens still, weil sie ihre Eltern oder Lehrer nicht verprellen wollen.

Was hat der Islam mit Öl zu tun?

In Staaten, die sich nicht aus Steuereinnahmen, sondern aus Öl und Gas finanzieren, entstehen keine Demokratien. Die Gruppe, die an der Macht ist, monopolisiert die Herrschaft und benutzt dazu auch die Religion. Muslime werfen uns das vor. Sie sagen: „Ihr beklagt euch über den Extremismus und beliefert Saudi-Arabien mit Waffen.“ Wir müssen weg vom Öl. Damit würden wir autoritären Regimen die wirtschaftliche Grundlage entziehen. Solange wir vom Öl abhängig sind, spielen die Menschenrechte eine untergeordnete Rolle.

Wie wird es in muslimischen Ländern verstanden, wenn westliche Politiker auf ihren Auslandsreisen auf die Durchsetzung von Religionsfreiheit pochen?

In der arabischen Welt schmunzeln die Menschen über den Moralismus des Wes-tens. Sie wissen, dass wir ihr Öl wollen und das Gerede über Menschenrechte nur pro forma für die westlichen Kameras ist. Das nimmt dort kein Mensch ernst. Wir liefern Waffen dorthin, selbst wenn Frauen unterdrückt und liberale Blogger ausgepeitscht werden. Wir würden unserer eigenen Glaubwürdigkeit einen Gefallen tun, wenn wir nicht so tun würden, als wären uns Menschenrechte wichtiger als das Öl. Gerade Muslime, die nicht extremistisch sind, nehmen mit Bedauern wahr, dass wir unseren eigenen christlichen und humanistischen Werten nicht gerecht werden. Uns war im 20. Jahrhundert der Reichtum wichtiger als die Menschenrechte. Jesus hätte dazu wahrscheinlich einiges zu sagen gehabt.

Sie behaupten, die muslimische Welt steckt in einer Bildungskrise. Wie kommt das?

Schuld ist das Verbot des Buchdrucks durch osmanische Sultane im 15. Jahrhundert. Europa stürmte durch die Reformation über den 30-jährigen Krieg bis zur Aufklärung und in die heutige Zeit. Die islamische Welt blieb im Mittelalter zurück und hat bis heute diesen Bildungsabstand nicht eingeholt. Bereits Luther hat sich für Mädchenschulen stark gemacht, um das Bildungsideal umzusetzen. Die Ideale des Bildungsbürgertums – Kindern keinen Luxus, aber eine gute Ausbildung zu finanzieren – gehen maßgeblich auf das evangelische Pfarrhaus und später auch katholische Schulen zurück. Die islamische Welt benötigt dringend Bildung der Mädchen und Frauen. Um ein realistisches Bild der islamischen Kultur zu zeichnen, wäre es absolut wichtig, dass Kinder – ob Migranten oder nicht – lernen, dass auch das Osmanische Reich Licht und Schatten hatte und kein idyllisches Märchenland war. Wir blicken ja zu Recht auch kritisch auf die Kirchengeschichte, nur so kann man lernen.

Der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi hat in Berlin 40 Thesen an eine Moschee angeschlagen. Welche Aussicht auf Erfolg haben seine Forderungen nach einem humanistischen Islam?

Die Thesen, die er aufstellt, sind teilweise ansprechend. Aber nur ein kleiner Teil der Muslime hat sie überhaupt wahrgenommen. Der stille Rückzug ist so weit, dass sich viele liberale Muslime gar nicht mehr für die Theologie interessieren und die Konservativen versuchen, sich abzuschotten. Es fehlt also an der vernünftigen Mitte. Die Vernünftigen sind gar nicht mehr in den Moscheegemeinden aktiv. Dort sind häufig die Konservativen und weniger Gebildeten unter sich.

Ourghi bemängelt auch, dass Politiker die falschen Ansprechpartner haben. Wer ist denn der richtige Ansprechpartner?

Genau da ist das Problem. Viele liberale Muslime fordern eine deutsche Diyanet (türkische Religionsbehörde, Anm. d. Red.). Der Staat soll bestimmen, welche Theologie und welche Imame die Richtigen sind. Davor sollten wir uns hüten. Unsere Verfassung sieht eine Unterscheidung von Staat und Religion vor. Kirchen und Religionsgemeinschaften definieren ihre Religion und arbeiten dann mit dem Staat zusammen. Wenn die Muslime dies nicht hinbekommen, dann geht der Islam halt unter, aber dann ist das so. Es geht nicht, dass wir durch die liberale Hintertür einen deutschen Staatsislam einführen. Das gilt auch für die Ausbildung der Imame. Christen und Juden finanzieren ihre Geistlichen durch Kirchen- und Kultussteuer mit. Wenn Muslime hierzu nicht bereit sind, darf das nicht der Staat übernehmen. Ein zu 100 Prozent aus Steuergeldern finanzierter Staatsislam entspricht nicht unserer Verfassung.

Wie nehmen Muslime denn die historisch-kritische Theologie auf, wenn sie beim Koran angewendet werden soll?

Einerseits sagen sie, dass der Koran schon immer im historischen Kontext angeschaut wurde. Andererseits hat sich ein sehr autoritäres Auslegungsverständnis durchgesetzt, nach dem die einfachen Menschen den Koran gar nicht auslegen, sondern nur der Tradition folgen dürfen. Das ist jetzt unter Druck. Ein Stück weit erleben wir, wie im Christentum auch, die Entwicklung hin zum Priestertum aller Gläubigen: Jeder Muslim, jede Muslimin hat das Recht, sich den Koran anzueignen und ihn auszulegen. Das erschüttert natürlich die traditionelle Gelehrsamkeit des Islam, die demgegenüber sprachlos ist. Wenn die Muslime ihre Religion nicht selbst gegen die Radikalen retten, ist die Frage, ob wir einem langsamen Sterbeprozess zuschauen.

Sowohl Christen als auch Muslime vertreten einen Universalanspruch. Wie kann das zu einem gedeihlichen Umgang miteinander führen?

Persönlich ziehe ich Mut aus der Bibel. Die Geschichte von Isaak und Ismael berichtet davon, dass es zwischen den Stammvätern von Juden, Christen und Muslimen einen großen Streit gegeben hat aufgrund ihrer unterschiedlichen Charaktere. Aber am Ende versöhnen sie sich am Grab Abrahams. Ich würde Christen zurufen: „Fürchtet euch nicht!“, und dazu aufrufen, Gott und den christlichen Glauben fröhlich zu bekennen, ihn tolerant und dialogoffen in die Welt hinauszutragen und letztlich damit zu zeigen, dass wir Gott auch vertrauen. Panikaufrufe und Verschwörungsglauben sind meines Erachtens Zeichen für einen schwachen Glauben in die gute Botschaft.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe 6/2017 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter Telefon 06441-915-151, per E-Mail an info@kep.de oder online.

Von: Norbert Schäfer

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