„Religion ist uns unheimlich geworden“

Der Katholik Martin Mosebach und der Muslim Navid Kermani glauben an denselben Gott, sagen sie. An Jesus scheiden sich aber die Geister. Bei allen Unterschieden sind sie fasziniert vom Glauben des jeweils anderen.
Von PRO
Der Muslim Navid Kermani (li.) kann sich für das Christentum begeistern, während sich der Katholik Martin Mosebach über ernsthaft betende Muslime freut
Bei der Frage nach Jesus kommen der Schriftsteller und Katholik Martin Mosebach und der Muslim Navid Kermani, habilitierter Orientalist, nicht zusammen. Für den einen ist er Mensch gewordener Gott, der andere kann mit diesem Anspruch nichts anfangen und sieht in Jesus einen Propheten. Im aktuellen Magazin der Süddeutschen Zeitung sprechen die beiden Freunde über ihren Glauben und die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft. Dabei wird deutlich: Auch wenn es zwischen den Religionen unüberwindbare Differenzen gibt, verbindet die beiden tiefer Respekt und Bewunderung für den Glauben des anderen. Kermani hat in seinem letzte Woche erschienenen Buch „Ungläubiges Staunen“ seine Faszination für das Christentum, dem er sich über die Kunst nähert, in Worte gefasst. Sein katholischer Freund Mosebach lässt sich auch vom Islam inspirieren: Wenn er sehe, wie ein muslimischer Großvater seinem Enkel das Beten beibringt, erfreue ihn das. Dass Muslime vor Gott auf die Knie gehen, sei ihm ein Trost angesichts der Pietätslosigkeit vieler Christen, sagt er im Interview.

„Das Christentum hat den Kopf eingezogen“

„Die christliche Religion in Westeuropa ist praktisch unsichtbar geworden. Sie hat den Kopf eingezogen und präsentiert sich so angepasst wie möglich. Die Religion, die fordert, dass sich der Mensch von ihr ergreifen lässt, ist dem Publikum unheimlich“, kritisiert Mosebach das heutige Christentum im Vergleich mit dem Islam. Das Christentum passe sich in Europa dem Zeitgeist an und ordne sich einer „Zivilreligion“ der Gleichgültigkeit unter. Im Nahen Osten seien Menschen noch bereit, für ihren christlichen Glauben zu sterben. Die Menschen in Europa hätten eigentlich nicht Angst vor dem Islam, sondern vor etwas, das man aus der eigenen Vergangenheit kenne und für „endgültig ausgemerzt“ halte: eine Religion, die ernstgenommen werden will. Mosebach sagt, ihm sei ein gläubiger Muslim lieber als ein Christ mit „wegtheologisierter Religion“. Christen und Muslime beteten schließlich zu demselben Gott, dem „Gott Abrahams“. „Aber in der westlichen Welt haben die Menschen das Knien verlernt“, bemängelt er. Sie propagierten „auf lächerliche Art und Weise das Bild des mündigen Christen“ – dabei sei es, sollte es Gott geben, doch das einzig Vernünftige, sich vor ihm niederzuwerfen.

„Der Islam erlebt gerade seinen Niedergang“

Der Muslim Navid Kermani ist nicht zufrieden mit dem, was der heutige Islam hervorbringt. Dort, wo der Islam Staatsreligion sei, würde man zwar die äußeren Zeichen der Frömmigkeit wie das Kopftuch oder die Einhaltung des Ramadan häufiger antreffen. Das bedeute aber keinesfalls, dass die Menschen in diesen Ländern im Herzen gläubiger sind, betont er. Im Gegenteil: Folter und Korruption färbten negativ auf die Religion ab. Kermani sieht darin Fehler der jeweiligen Regierungen. Der Islam erlebe zurzeit keine Renaissance, sondern einen Niedergang: „Die Terroristen sind nicht Ausdruck von Stärke, sondern der kolossalen Schwäche des Islam in unserer Zeit“, sagt er.

Widersprüche gehören zur Religionen

Kermani warnt vor einer heute verbreiteten Auslegung des Koran, die versuche, diesen wie einen juristischen Text zu behandeln. Dabei sei der Koran ein hochpoetischer und vieldeutiger Text, der ursprünglich zudem als Liturgie gesungen worden sei. „Keine islamische Theologie hat ihn jemals einfach so wörtlich verstanden und eins zu eins umgesetzt“, behauptet er. Traditionell habe es immer mehrere Auslegungen eines Koranverses gegeben, versehen mit dem Hinweis, nur Gott kenne die endgültige Bedeutung. Mosebach ergänzte: Widersprüchlichkeit sei ein Wesensmerkmal von Religion. Sobald man versuche, eine verbindliche Auslegung festzulegen, werde sie zur Ideologie. Es sei möglich, sagt Kermani, einen 2.000 Jahre alten Text ernst zu nehmen, und trotzdem „menschenfreundlich und aufgeklärt in der Gegenwart“ zu leben. Religion bedeute nicht, einfach stupide einem Text zu folgen. Sie entstehe erst aus dem Verhältnis des Menschen zu diesem Text, und das verändere sich im Laufe der Geschichte. Auch wenn Mosebach und Kermani sich fasziniert vom Glauben des anderen zeigen und ihre eigene Religion kritisieren, sind sie dennoch von dieser überzeugt: „Die Liebe zum Eigenen erweist sich in der Kritik“, sagt Kermani. „Die Liebe zum anderen kann viel rückhaltloser sein.“ (pro)
https://www.pro-medienmagazin.de/film/detailansicht/aktuell/muslima-dreht-film-ueber-christenverfolgung-im-irak-93177/
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/weltweit/detailansicht/aktuell/der-reissverschluss-eines-zeltes-schuetzt-nicht-93150/
https://www.pro-medienmagazin.de/kultur/buecher/detailansicht/aktuell/hans-kueng-und-seine-sieben-paepste-93121/
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