„Relativ realistisch“: Scientologe lobt Film über Machenschaften der Sekte

Beinahe neun Millionen Menschen haben am Mittwochabend im Ersten einen der wichtigsten Filme des Jahres gesehen: "Bis nichts mehr bleibt" handelt von einer Familie, die in die Fänge der Firma Scientology gerät. Doch auch der anschließende Talk bei "hart aber fair" offenbarte weitere Abgründe.
Von PRO

Auch wir erhalten immer mal wieder Anrufe von Jürg Stettler. Der Sprecher von Scientology Deutschland beschwert sich dann in der Redaktion über Beiträge, die "nur eine Seite unserer Kirche" darstellten. Es sei doch wohl nicht zu viel verlangt, auch über das viele Positive von Scientology zu berichten, das ja nun einmal überwiege, meint Stettler. Da uns bislang nicht klar war, was denn das Gute an seiner Sekte sein könnte, und auch das Sprachrohr der Organisation keine überzeugenden Hinweise in diese Richtung geben konnte, haben wir weiterhin darüber berichtet, was Kritiker und Sektenexperten schreiben und sagen. Über Ursula Caberta etwa, die Leiterin der Hamburger Arbeitsgruppe Scientology. Sie schildert vieles, was im Film gezeigt wird, in ihren Büchern "Schwarzbuch Scientology" oder "Kindheit bei Scientology: Verboten" (beide Gütersloher Verlagshaus).

Dass sich die ARD nun zu einem Film über die Machenschaften der Sekte entschlossen hat, ist mehr als lobenswert. Viel wurde in dieser Woche über die streng geheim gehaltenen Dreharbeiten geschrieben, über die Eindringlichkeit, mit der die Schauspieler die subtilen Methoden der Dianetik darstellen, wie ein Ehepaar an dem von Scientology verlangten Streben zum Status "Clear" zerbricht. Und auch die Grundlagen der Sekte, wonach ihre Mitglieder durch Reinheit zu einer auserwählten und abgesonderten Gruppierung werden, wurden beklemmend deutlich.

Teil des ARD-Films "relativ realistisch"

Bei "hart aber fair" diskutierte Frank Plasberg mit seinen Gästen weiter über den Film. "Sekten, Gurus und Gehirnwäsche – Wie gefährlich sind moderne Seelenfänger?" lautete das Thema. Mit dabei war auch Jürg Stettler. Er wehrte sich gegen die Kritik an seiner Organisation, gestand zumindest ein, dass der erste Teil des ARD-Films "relativ realistisch" war. Grundsätzlich aber laufe gegen seine Sekte eine Kampagne mit bewussten Übertreibungen und dreisten Lügen, der Film beleuchte ausschließlich Negatives. Das Argument kennen wohl alle, die Stettler ab und an am Telefon haben.

Eindrücklich schilderte Wilfried Handl, langjähriger und einflussreicher Mitarbeiter der Organisation, wie das System Scientology funktioniert. Seine Gefühle, sein gesunder Menschenverstand, seien ausgelöscht worden, der Organisation gehe es ausschließlich um das Geld ihrer Mitglieder. Handl war bis zu seinem Austritt Leiter der Gruppierung in Österreich und immerhin 28 Jahre Mitglied. Er forderte bei "hart aber fair" auch ein Verbot von Scientology – die Sekte habe nämlich Pläne für eine "Machtübernahme". Den anwesenden Pressesprecher Stettler bezeichnete Handl als Leiter der Scientology-Abteilung "Büro für spezielle Angelegenheiten" – einer Art Geheimdienst für interne Angelegenheiten. Auch der frühere bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) schilderte seinen "Kampf" gegen Scientology, den er bereits als Innenminister des Freistaates aufgenommen hatte. Die "totalitäre Organisation" tarne sich lediglich als Kirche, sie zocke ihre Mitglieder ab und setze sie massiv unter Druck. Aus den Berichten des Verfassungsschutzes und Gesprächen mit Experten sei ihm hinlänglich bekannt, wie Scientology arbeite.

"Haben Sie Lust, von mir von außen betrachtet zu werden?"

Wer als Zuschauer den Schock über den Spielfilm noch nicht ganz überwunden hatte, dem versetzte der ehemalige Fernsehpfarrer Jürgen Fliege einen weiteren Hieb in die Magengrube. Auch er war in der Runde bei Plasberg – aus welchem Grund, ließ sich nicht feststellen. Was Fliege aber von sich gab, ist symptomatisch für den nach allen Seiten offenen evangelischen Pfarrer: Zwar habe er den Film nicht gesehen, anhand der kurzen Szenen, die bei "hart aber fair" gezeigt wurden, könne er aber nichts Verwerfliches an den Handlungen von Scientology erkennen. Gezeigt wurde etwa der Ausschnitt, in dem ein Mädchen von einem jüngeren Kind von einer Wand zu anderen "geführt" wird, immer verbunden mit Befehlen. So sollen bereits Kinder in Scientology-Kursen lernen, Macht auszuüben. Was aber sagt Fliege dazu? Auch er habe als Pfarrer mit Kindern vertrauensbildende Spiele durchgeführt, das sei doch förderlich. Außerdem liege es ihm fern, in eine Anti-Scientology-Hysterie einzusteigen. Sinnvoller sei es doch, mit Vertretern der Organisation ins Gespräch zu kommen, deren Bereitschaft zu erspüren, ob ein Dialog möglich sei. Viel lieber also würde er die Scientologen fragen: "Haben Sie Lust, von mir von außen betrachtet zu werden, so dass ich Ihnen ein paar Sachen sagen kann, die Sie selber gar nicht sehen können?" Fliege blickt dabei gewohnt verständnisvoll und rührig seinen Nachbarn an, Jürg Stettler. Der nickt – und lächelt.

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