Kriele schreibt in der Ausgabe vom Donnerstag: "Europas christliche Tradition schlägt sich in vielen äußeren Erscheinungsformen nieder, in Festen, Liedern, Bräuchen, Sprachformeln und Symbolen, mancherorts auch in Kruzifixen am Wegesrand, in Gaststätten, auf dem Friedhof und in Gebäuden der öffentlichen Verwaltung." Er greift in einem Gastbeitrag in der F.A.Z. das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 3. November 2009 an, wonach ein Kruzifix in Schulräumen die Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie das Elternrecht verletze. In Italien hat eine dort lebende finnische Familie Klage erhoben, um diesen Urteilsspruch durchzusetzen. Der italienische Staat beantragte die Verweisung an die Große Kammer.
Kriele fasst das Urteil so zusammen: Es sei nach Auffassung des Europäischen Gerichts ein Menschenrecht, in einem säkularisierten Staat zu leben, in dem sich die Religion vollständig in die Privatsphäre zurückgezogen hat. Doch: "Das steht so in keiner Menschenrechtskonvention", fügt der Rechtsexperte hinzu. Der Gerichtshof habe diese Freiheit aus Religions- und Weltanschauungsfreiheit und dem Elternrecht "herausinterpretiert oder besser: in sie hineininterpretiert". Weiter bemängelt der Rechtsexperte: "Das Verfahren wurde praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt, als ginge es diese nichts an."
"Kulturen sind nun einmal religiös geprägt"
Bisher habe es als selbstverständlich gegolten, dass religiöse Symbole in der Öffentlichkeit jedermann zumutbar seien. "Es ist nun einmal so, dass die Kulturen historisch gewachsen und von religiösen Traditionen geprägt sind", so Kriele.
Würden die Kläger oder Atheisten denn in ihren Freiheiten verletzt, wo sie doch völlig unangefochten bei ihren Überzeugungen bleiben könnten, fragt Kriele. Selbst wenn Kruzifixe in öffentlichen Gebäuden hingen, bliebe die Gleichberechtigung der Andersgläubigen und Atheisten uneingeschränkt geachtet. "Die Kammer bedient sich seltsamer Argumente, nämlich: Mit Hilfe des Kreuzes habe der Staat ‚Druck‘ auf die Kinder ausgeübt. Gemeint ist anscheinend: Druck, zur katholischen Kirche zu konvertieren. Nach faktischen Anhaltspunkten sucht man vergeblich."
Auch das Argument, ein Kruzifix in der Schule könnte "verletzliche" Kinder beeinträchtigen, lässt Kriele nicht gelten: "Gewiss, gläubige Kinder wird es entsetzen, dass man Gottes Sohn so etwas angetan hat; ungläubige werden eher denken, er habe es bei der damaligen grausamen Strafjustiz wohl nicht besser verdient. Doch beides sind momentane Empfindungen, die die Lebensfreude in der Schule so wenig beeinträchtigen wie im Wirtshaus mit seinem ‚Herrgottswinkel‘." Kriele fügt hinzu, dass sich "im jugendlichen Alter" eine Distanzierung von der religiösen Tradition meist von alleine einstelle. Die Vertrautheit mit der Religion werde den Erwachsenen später aber zugute kommen, seien viele Eltern überzeugt.
Appell an Richter: Unabhängig von persönlichen Anschauungen urteilen
Kriele stellt fest: "Bestätigte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs das Urteil der Vorinstanz, dann verletzten eigentlich alle Kruzifixe in allen öffentlichen Räumen die Menschenrechte. (…) Wenn schon das Kreuz als menschenrechtswidrig gilt, dann doch wohl erst recht der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen."
Im Grunde müssten nach der Argumentation des Gerichts "ebenso das Läuten der Glocken und der Gebetsruf des Muezzin, die Teilnahme von Geistlichen an einer öffentlichen Trauerfeier, ja schon die äußere Sichtbarkeit von Kirchen und Moscheen" die Menschenrechte verletzen.
Kriele merkt an: "Konsequent zu Ende gedacht, wäre der Begriff der Menschenwürde aus dem Grundgesetz zu streichen; denn er hat seine geistesgeschichtliche Wurzel im Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Der Sternenkranz der Europafahne hat einen biblischen Hintergrund (Apokalypse 12,1) und verletzt deshalb die Menschenrechte, ebenso die Europahymne ‚Freude schöner Götterfunken‘ mit dem moralischen Gottesbeweis des ‚Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen‘."
Auch die Jahreszählung seit Christi Geburt, die Sonntagsregelungen, die Weihnachts-, Oster- und Pfingstferien seien in Frage zu stellen. Der Rechtsgelehrte fragt: "Darf man Schüler mit Bachs Matthäuspassion vertraut machen?"
Kriele mahnt: "Ein Richter sollte die Prinzipien der Aufklärung und der rechtsstaatlichen Liberalität so weit verinnerlicht haben, dass er den Begriff der Menschenrechte wirklich versteht. Er sollte begriffen haben, dass er zu unparteiischer Urteilsfindung unabhängig von seinen persönlichen Anschauungen verpflichtet ist."
Martin Kriele hat Rechtswissenschaften und Philosophie studiert und war Professor für Öffentliches Recht an der Universität Köln. Von 1976 bis 1996 war er Richter am Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen. Zudem hat er die "Zeitschrift für Rechtspolitik" mitbegründet und herausgegeben. Kriele ist zudem Autor religiöser Bücher, wie etwa: "Gott und die Vernunft. Kann ein vernünftiger Mensch ungläubig sein?". (pro)