Reaktionen auf Günter Grass: Kritik an der Kritik

"Was gesagt werden muss": Günter Grass hat mit seinem israelkritischen Gedicht bundesweit für Empörung gesorgt. Auch in den Medien gehen die Meinungen weit auseinander.
Von PRO

Es gab kaum ein Medium, das nicht mindestens einen Artikel zu dem Gedicht "Was gesagt werden muss" von Günter Grass veröffentlichte. Keine Zeitung konnte sich der Wirkung, die das Gedicht in der Gesellschaft hinterlassen hatte, entziehen. Die Artikel umfassen ein großes Meinungsspektrum – etwa von scharfer Verurteilung der Grass´schen Äußerungen über Gleichgültigkeit bis hin zur Verurteilung der Worte des Literaten. Am Mittwoch erschien das vollständige Gedicht unter anderem in der "Süddeutschen Zeitung".

Literatur-Nobelpreisträger Grass warnt in seiner Veröffentlichung vor einem Angriff Israels auf den Iran. Das nimmt er zum Anlass, die israelische Politik harsch zu kritisieren und mit dem Staat im Nahen Osten abzurechnen – aus der Sicht eines Deutschen. Die Atommacht Israel gefährde den "ohnehin brüchigen Weltfrieden", indem sie das Recht auf einen atomaren Erstschlag behaupte. Der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad geht lediglich als "Maulheld" aus dem Gedicht hervor.

Grass verzichtet in seinem Beitrag zur Literaturwelt auch nicht darauf, die Rolle der Deutschen im iranisch-israelischen Konflikt zu definieren: Deutschland sei an der Gefährdung beteiligt, da es Israel ein U-Boot zur Selbstverteidigung geschickt habe. Bisher habe er geschwiegen, die deutsche Geschichte habe ihn bisher daran gehindert, offen zu sprechen. Jetzt aber könne er nicht mehr still bleiben.

"Der Kern der Zwiebel ist braun"

Eindeutig Stellung bezieht Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG, in einem Kommentar in der "Bild": "Dass nun ausgerechnet ein deutscher Schriftsteller den Israelis erklärt, dass der Maulheld harmlos und die einzige echte Demokratie im Nahen Osten den Weltfrieden gefährdet, ist inakzeptabel." Dabei weist er auf Grass´  Vergangenheit in der Waffen-SS hin, die der Schriftsteller rund 60 Jahre lang verschwiegen hatte. Der Nobelpreisträger verbreite "im raunenden Ton des Moralisten nur eines: politisch korrekten Antisemitismus". Er versuche, die Schuld der Deutschen zu relativieren, indem er die Juden zu Tätern mache. Daher zieht Döpfner den Schluss: "Beim ‚Häuten der Zwiebel‘, wie Günter Grass seine Autobiografie genannt hat, ist er jetzt ganz innen angekommen. Und der Kern der Zwiebel ist braun und riecht übel."

Als "Umkehrung westdeutscher Nachkriegsdiskurse" und "Machwerk des Ressentiments" bezeichnete auch der Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Frank Schirrmacher, das Gedicht. "Nein, das ist kein Gedicht über Israel, Iran und den Frieden." Grass sähe es sicher gerne, dass nun eine Debatte entstehe, ob man als Deutscher Israel kritisieren dürfe. "Die Debatte aber müsste darüber geführt werden, ob es gerechtfertigt ist, die ganze Welt zum Opfer Israels zu machen, nur damit ein 85-jähriger Mann seinen Frieden mit der eigenen Biographie machen kann."

"Den Mann wörtlich nehmen"

Auch die "Frankfurter Rundschau" distanziert sich offen von der Botschaft, die das Gedicht nach außen trägt. Im Leitartikel vom Mittwoch fragt der Journalist Uwe Vorkötter, warum Grass ausgerechnet von jenem Stereotyp Gebrauch macht, das ihm als antisemitisch geläufig sein müsse: "Man darf das ja eigentlich nicht sagen, aber jetzt muss es mal sein." Vorkötter zieht daher das Fazit: "So kennen, hören und lesen wir sie, die Rechten, Nationalen, verdrucksten Spießer, die aggressiven Glatzen. Und jetzt auch Grass."

"Der gebildete Antisemit"

Der Publizist Henryk M. Broder bezieht wohl am beherztesten Stellung. Der Autor entstammt einer polnisch-jüdischen Familie, seine Eltern waren KZ-Überlebende. In der Tageszeitung die "Welt" betitelt er Grass als einen "Prototypen des gebildeten Antisemiten", der es "gut mit den Juden" meine. Broder schreibt auch: "Grass hatte schon immer ein Problem mit den Juden, aber so deutlich wie in diesem ‚Gedicht‘ hat er es noch nie artikuliert." Von Schuld- und Schamgefühlen verfolgt und von dem Wunsch getrieben, Geschichte zu verrechnen, trete Grass nun an, den ‚Verursacher der erkennbaren Gefahr‘ zu entwaffnen. "Damit im Nahen Osten endlich Frieden einkehrt und auch Günter Grass seinen Seelenfrieden findet, soll Israel ‚Geschichte werden‘. So sagt es der iranische Präsident, und davon träumt auch der Dichter beim Häuten der Zwiebel."

Eine Antwort auf Broders Ausführungen gab noch am Mittwochabend das konservative "Westfalen-Blatt" mit Sitz in Bielefeld. Darin stellt sich Autor Matthias Meyer zur Heyde in mancher Hinsicht schützend vor den Schriftsteller. Grass habe sein Unbehagen über "das ungleich verteilte Gewicht der Kräfte im Nahen Osten" geäußert und "prompt attackiert der Publizist Henryk M. Border den Nobelpreisträger als ‚gebildeten Antisemiten‘." Wäre der historische Hintergrund des Gedichtes nicht so finster, dürfte der Vorfall belächelt werden. "Das Spiel ist ja hinlänglich bekannt. Pawlowsche Reflexe: Kaum läutet einer die israelkritische Glocke, beginnt der deutsche Oberlehrer zu geifern und schwingt die Antisemitismus-Keule." Dass Broder Grass also als Antisemiten brandmarke, sei dürftig. "Israel-Kritik und Antisemitismus sind zwei Paar Schuhe – Broder bekommt nicht einmal die Begrifflichkeit auf die Reihe."

Typisch deutscher Reflex?

Grass als Antisemiten zu bezeichnen, geht mancher Zeitung zu weit. Das "Offenburger Tageblatt" empfindet die durch das Gedicht ausgelöste Debatte als einen "schlechten Witz", der jedoch ein "typisch deutscher Reflex" sei. "Die offene Kritik an Israel gehört auch 67 Jahre nach Kriegsende in die Kategorie Tabubruch. Doch die deutsche Vergangenheit und der Holocaust sollten keine Gründe sein, zu schweigen." Auch der Schriftsteller Clemens Meyer verteidigt in der "Leipziger Volkszeitung" den Nobelpreisträger. "Mir ist es lieber, wenn Grass mal was sagt, als dass es keiner tut. Mit den Waffenlieferungen aus Deutschland nach Israel hat er auch recht." Grass sei durchaus befähigt, sich zu diesem Thema zu äußern. "Er ist Nobelpreisträger und 85 Jahre alt, und auch wenn einiges, was er sagt, vielleicht etwas undifferenziert ist, allein die Reaktionen von Broder und Co. geben ihm doch recht."

Stellungnahme im Fernsehen

Infolge der Debatte um "Was gesagt werden muss" will sich Grass am heutigen Donnerstag in den "Tagesthemen" sowie im ZDF-Kulturmagazin "aspekte" zu seinem Text und den darauffolgenden Reaktionen äußern. Das gab sein Sekretariat in Lübeck bekannt. Es ist geplant, dass Grass sein Gedicht in den "Tagesthemen" im Ersten vorträgt und anschließend Fragen dazu beantwortet. (pro)

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