„Ratzinger wird als einer der ganz großen geistlichen Väter der Kirche wahrgenommen werden“

Ein halbes Jahr ist vergangen, seit Benedikt XVI. gestorben ist. Als Josef Ratzinger veröffentlichte er drei einflussreiche Bücher über Jesus. Was wird bleiben von Ratzingers geistlichem Erbe? Der Neutestamentler Roland Deines meint: Sehr viel.
Von Nicolai Franz

PRO: Vor 15 Jahren veröffentlichte der damalige Papst Joseph Ratzinger den ersten von drei Bänden über Jesus von Nazareth. Was war das Besondere daran?

Roland Deines: Es war der Versuch, Glaube und Wissenschaft beim Forschen über Jesus zusammen zu halten. Er hat die Evangelien aus einer glaubenden Perspektive heraus gelesen: Was würde es bedeuten, wenn die Texte, die uns gegeben sind, wahr sind? Und wie kann man damit auch die historischen Fragen angehen?

Damit hat Ratzinger eingelöst, was er in einer Rede 2005 in Subiaco einmal so formuliert hatte: „Sollten wir nicht das Axiom der Aufklärer – und damit meinte er das berühmte Zitat von Hugo Grotius, die Welt zu betrachten „etsi deus non daretur“, als wenn es Gott nicht gäbe – umkehren und sagen: Auch wer den Weg zur Bejahung Gottes nicht finden kann, sollte doch zu leben und das Leben zu gestalten versuchen, „veluti si Deus daretur“ – als ob es Gott gäbe.“

Ratzinger lädt dazu ein, mit Bibeltexten genau so umzugehen: Nicht so, als gäbe es Gott nicht, sondern indem man davon ausgeht, dass die Welt wirklich so ist, wie sie uns in den biblischen Texten begegnet. Er hat also nicht Wissenschaft sozusagen von unten, also den natürlichen Voraussetzungen her, sondern Wissenschaft von oben her betrieben – aus einer dezidiert glaubenden Perspektive, die mit Gott als historischer Möglichkeit rechnet und ihn nicht methodisch ausschließt. Dazu andere zu ermutigen, war seine Mission.

Er wandte sich also gegen einen methodischen Atheismus.

Zunächst: Methodischer Atheismus darf nicht verwechselt werden mit Unglauben oder Nichtglauben derer, die auf diese Art und Weise methodisch arbeiten, sie sind deswegen auch nicht automatisch Atheisten. Sondern es ist das Bemühen, zunächst einmal historisch die Dinge ohne die Hypothese „Gott“ zu erklären. Das ist grundsätzlich ein vernünftiges und kluges Verfahren.

Aber es kommt an Grenzen. Benedikt bezeichnet das als „Selbstbeschränkung der positiven Vernunft“. Er kritisiert – und da stimme ich ihm zu – dass man aus diesem methodischen Atheismus nicht mehr hinausfindet. Er bietet kein Instrumentarium, auf der gleichen Ebene doch noch mit Gott rechnen zu können.

Darauf hat er besonders in der Einleitung des ersten Bandes seiner Jesus-Trilogie hingewiesen und das hat zu einem bemerkenswerten Aufschrei und Furor unter den Neutestamentlern geführt. Sie wollten sich vom Papst nicht in das exegetische Geschäft hineinregieren lassen.

Was bedeutet das konkret? Ein methodischer Atheismus hat sicher keine Probleme damit, zum Beispiel historische Stätten zu untersuchen, die in der Bibel erwähnt werden. Wenn dort aber steht, dass Jesus als Gottes Sohn auf übernatürliche Weise Kranke heilt – sind das die Grenzen, von denen Sie eben sprachen? Ratzinger wollte ja beides verbinden: Die christologisch-kanonische Lesart, aber auch die historisch-kritische Herangehensweise.

Es war der Versuch, die historische und die kritische Methode zu verwenden, allerdings ohne den Bindestrich, also ohne diesen ideologischen Vorbehalt des methodischen Atheismus. Nach Ernst Troeltsch muss in der historisch-kritischen Methode alles innerweltlich erklärt werden, ohne Platz für außerweltliche Erklärungen historischer Vorgänge.

Ratzinger hat erkannt: Wenn man anfängt, Dinge aus dieser Perspektive zu betrachten, lassen sich andere Elemente, wo wir von einem Eingreifen Gottes in der Welt reden, nicht mehr in der gleichen Weise beschreiben. Die gelten dann nämlich als ein Geschehen, das jenseits der Geschichte liegt. Der berühmte Satz ist dann immer: „Da muss der Historiker schweigen.“ Oder: „Das ist meta-historisch.“ Dafür muss man noch nicht zu den ganz großen Wundern wie der Auferstehung gehen. Nehmen wir die Taufe von Jesus.

Der Beginn des ersten Bandes von Ratzingers Jesus-Büchern.

Bei der Taufe von Jesus öffnet sich nach dem Bericht von Matthäus und Lukas der Himmel. Der Heilige Geist erscheint in sichtbarer Gestalt. Eine Stimme aus dem Himmel sagt: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Bisher war Jesus Handwerker gewesen, der ein zurückgezogenes Leben geführt hatte. Wenn er von seiner Berufung wusste – was man annehmen kann, wenn man den biblischen Texten traut – hat er vermutlich auf einen solchen katalysatorischen Moment gewartet. Das würde bedeuten, dass ein visionäres, ein geistliches Erleben am Anfang der Wirksamkeit von Jesus steht. Eine Beauftragung durch Gott, die er zutiefst persönlich erfahren hat.

Moderne Jesusbücher sehen diese Beauftragung jedoch nicht als Schlüssel des Selbstverständnisses von Jesus und können mit einem solchen Berufungserlebnis historisch nur schwer umgehen. Stattdessen werden irgendwelche anderen Erklärungen herangezogen, wie Jesus zu seinem Anspruch gekommen ist, sofern man ihm überhaupt einen solchen Anspruch zumisst.

Ratzinger sieht diese geistlichen Vorgänge dagegen immer auch als historische Vorgänge. Er versucht, die Jungfrauengeburt als ein historisches Geschehen zu verstehen, ohne das nun billig zu verharmlosen oder ungebührlich zu konkretisieren.

Das ist ja auch die Kunst, wenn es um das Eingreifen Gottes in der Welt geht: Man muss sehr vorsichtig sein, weil wir Gottes Eingreifen nicht in der Weise beweisen können, wie wenn zwei Autos einen Unfall bauen, wo ich Ursache und Wirkung klar vor Augen habe. Ich bin bei meinen frommen Geschwistern auch zunächst einmal vorsichtig, wenn sie sagen, dass Gott ihnen dieses oder jenes gezeigt habe.

Muss sich Ratzinger da nicht den Vorwurf gefallen lassen, dass er da naiv an den Bibeltext herangeht? Gutgläubig?

Er macht das nicht naiv, sondern indem er Denktraditionen und Erfahrungen von 2000 Jahren vertraut. Das ist eher das, was der Tübinger Theologe Peter Stuhlmacher in seiner Hermeneutik des Neuen Testaments als das „Einverständnis mit den biblischen Texten“ bezeichnet hat.

Das ist die Denkfigur, die ich eben versucht habe zu beschreiben: Versuchen wir doch einmal, die Wirklichkeit zu verstehen unter der Annahme, dass das wahr ist, was uns in den biblischen Texten mitgeteilt wird. Also Offenheit und „Einverständnis“ am Anfang, dazu die Bereitschaft, sich den Texten einmal – und sei es nur versuchsweise – anzuvertrauen. Für Ratzinger ist das tiefste existentielle Überzeugung. Seine Bücher waren wirklich eine Einladung zum Gespräch.

Er hat sie daher ja auch nicht als Papst veröffentlicht, sondern unter seinem Geburtsnamen Joseph Ratzinger.

Ja, um der Befürchtung die Luft zu nehmen, als würde nun quasi lehramtlich bestimmt, was bei der wissenschaftlichen Exegese herauskommen muss. Ich verstehe trotzdem, dass katholische Kollegen hier noch sensibler reagieren als evangelische. Denn ab 1905 hat die päpstliche Bibelkommission unter Papst Pius X. in einer ersten Abwehrschlacht gegen die historisch-kritische Methode versucht, lehramtlich per Papst-Dekret festzulegen, wer den Pentateuch, das Jesajabuch oder das Matthäusevangelium geschrieben hat und so weiter. Das ging schief.

In dem Moment, wo der Papst exegetische Urteile fällt, klingeln da natürlich im katholischen Kontext die Alarmglocken. Der evangelische Leser von Ratzinger hat da einen Vorteil.

„Seine Bücher waren wirklich eine Einladung zum Gespräch.“

Er kann freier damit umgehen.

Ich muss bestimmte Dinge nicht gutheißen, sondern ich suche mir das heraus, das für mich anschlussfähig, inspirierend und hilfreich ist.

Zum Beispiel?

Die Tatsache, dass er als Bischof das tut, was man von einem Bischof erwartet, nämlich die Welt unter der Voraussetzung zu erklären, dass es diesen Schöpfergott der Bibel gibt, und dass wir unser Leben nur dann sinnvoll führen und gestalten können, wenn wir in Übereinstimmung mit diesem Schöpfer leben. Das wäre auch die Aufgabe meiner Kollegen in den theologischen Fakultäten. Sie müssen mehr bieten als Religionswissenschaft, Profangeschichte oder Soziologie.

Ratzinger selbst schreibt von der „inneren Freundschaft mit Jesus, auf die doch alles ankomme. Und er schreibt von Menschen, die „Jesus begegnen und ihm glauben wollen. Das klingt schon fast eher pietistisch als katholisch.

Ja. Ich glaube, dass Ratzinger etwas wusste von einer Ökumene der Gläubigen jenseits aller organisatorischen Strukturen und notwendigen offiziellen Gesprächen. Es ist sicher kein Zufall, dass mit Werner Neuer regelmäßig ein evangelikaler Theologe an den Treffen des Schülerkreises um Ratzinger teilnahm. Da war eine Nähe spürbar.

Ich war bei einem Treffen des Schülerkreises mit dabei, als die beiden Neutestamentler Peter Stuhlmacher und Martin Hengel im Jahr 2008 mit Ratzinger das „Gespräch über Jesus“ geführt haben. Es war für mich enorm eindrucksvoll zu erleben, wie sich der Papst in diesem für ihn vertrauten Kreis gab. In einer kleinen Messfeier sprach der Papst das Fürbittengebet. Das war ein Gebet, das jeder „Stundenbruder“ in einer Gemeinschaftsstunde genauso hätte beten können. Er hat die Sorgen um Angehörige derer, die da im Gottesdienst versammelt waren, in einer einfachen, schlichten Weise vor Gott gebracht. Er hat im Grunde so gebetet, wie ich auch beten würde. Das hat mich beeindruckt.

Auf der anderen Seite konnte Benedikt XVI. im ökumenischen Dialog auch sehr hart sein, wenn er zum Beispiel davon gesprochen hat, dass protestantische Kirchen keine Kirchen im eigentlichen Sinne seien. In seiner ersten Reaktion auf den Tod von Ratzinger sprach der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm von „Verletzungen, „die nachgewirkt haben. Gibt es da vielleicht zwei verschiedene Personen – einmal den Papst Benedikt im Bischofsamt, der die Einheit und Reinheit der Kirche bewahren muss, und auf der anderen Seite den Christen Joseph Ratzinger, der da ein weiteres Herz hat?

Ich glaube, dass man da eher die Integrität und Konsequenz von Ratzinger sieht, der an einer Überzeugung festhält, auch wenn er weiß, dass er damit in der medialen Öffentlichkeit keinen Beifall findet. Zudem: Dieses Beleidigtsein der evangelischen Bischöfe finde ich wirklich, mit Verlaub, kleinkariert.

Es ist nun mal ein Unterschied, wenn ein EKD-Ratsvorsitzender 20 Millionen Gläubige vertritt, während das Oberhaupt der katholischen Kirche 1,3 Milliarden Gläubige repräsentiert, eine universale Kirche auf allen Kontinenten mit Menschen jeglicher Herkunft. Wenn man den Tausenden von protestantischen Klein- und Kleinstkirchen ihr Kirchesein in diesem universalen Sinne abspricht, weil sie eben nicht Kirche in einer großen Tradition wie die katholische Kirche sind, sollte man nicht beleidigt sein.

Zudem finde ich es ein Stück weit seltsam, wenn sich ein evangelischer Theologe etwas daraus macht, ob der Papst seine Kirche anerkennt oder nicht. Für eine selbstbewusste protestantische Gewissheit in Bezug auf das eigene Kirche-Sein brauche ich doch kein päpstliches Etikett, das mir bescheinigt: „Ja, du darfst auch Kirche sein.“ Das wissen wir schon selber. Und am Ende ist es Jesus, der darüber entscheidet, wer seine Kirche ist und zu ihr gehört.

„Ich könnte mir vorstellen, dass selbst Papst Benedikt zuletzt gesagt hätte: Auch die katholische Kirche ist nicht die Kirche, sondern eine Kirche.“

Das Urteil des Papstes wäre Luther wahrscheinlich auch egal gewesen.

Ja, völlig. Und: Natürlich hat Ratzinger diese kirchlichen Machtspiele mitgespielt. Aber es war nach meinem – zugegebenermaßen sehr begrenzten Einblick – nicht sein eigentliches Anliegen. Die eigentliche Kirche ist der Leib Christi und alles, was zum Leib Christi gehört, was in Beziehung zu Jesus Christus steht. Aus diesem Grund könnte ich mir vorstellen, dass selbst Papst Benedikt zuletzt gesagt hätte: Auch die katholische Kirche ist nicht die Kirche, sondern eine Kirche.

Viele Theologen unterscheiden zwischen einem biblischen Jesus, einem historischen Jesus und dann dem kirchlich überlieferten, dem kerygmatischen Jesus. Wie sieht Ratzinger auf Jesus?

Für Ratzinger widersprechen sich diese drei – allesamt legitimen – Perspektiven nicht, weil sie für ihn dieselbe Person meinen. Für eine wissenschaftliche Sicht auf Jesus ist es jedoch wichtig wahrzunehmen, dass viele seiner jüdischen Zeitgenossen ihn anders wahrgenommen haben als die, denen er sich nach seinem Tod und seiner Auferstehung als der Auferstandene und der Kyrios offenbart hat.

Daher ist das Neue Testament natürlich geprägt von den Erfahrungen, die mit Ostern und Pfingsten zusammenhängen. Hier hat sich Jesus seinen Jüngern noch einmal in einer Weise erschlossen, die vorher nicht möglich war. Ratzinger aber war klar: Die Glaubensgemälde der Evangelien sind geprägt von den Erfahrungen der Auferstehung. Das führte er konsequent und sachgemäß fort. Dass Jesus der Sohn Gottes war und ist, war im Leben des historischen Jesus noch verhüllt, es war sozusagen übersehbar, auch wenn es sachlich wahr war. Das heißt: Jesus wurde nicht erst zum Sohn Gottes nach der Auferstehung, sondern er war Sohn Gottes. Das hält Ratzinger eben auch in seinen Geschichtsbüchern fest.

Er macht deutlich: Wenn es wahr ist, dass Jesus nicht einfach ein Mensch wie du und ich war, sondern Gottes Sohn, dann prägt das sein irdisches Leben. Und dann bestimmt das auch die Art und Weise, wie wir ihn nach diesem Leben sehen und wie er sich nach seinem Tod und seiner Auferstehung seinen Jüngern gezeigt hat.

Vertrat Ratzinger damit eine Minderheitenmeinung in der Theologie?

Die, wenn man so will, „fromme“ beziehungsweise lehrmäßig orthodoxe Tradition war immer der Meinung, dass es eine ontologische Kontinuität zwischen dem historischen und dem auferstandenen Jesus gibt. Auch historisch-kritische Kollegen, die gläubige Christen sind, sehen das so. Sie meinen nur, dass sie diese Dinge im Kontext rein historischen Fragens an der Universität auseinanderhalten müssen. Wenn sie sonntags Gottesdienst feiern, halten sie das wiederum in oftmals eindrucksvoller Weise durchaus zusammen.

Warum tun sie das nicht auch im Hörsaal?

Womöglich liegt das an einem gefühlten Druck an Universitäten, dass man von Kollegen der historischen, philosophischen oder religionswissenschaftlichen Fakultät nicht als frommer Spinner angesehen werden will. Deswegen bemühen sie sich zu zeigen, dass sie mit denselben Voraussetzungen arbeiten, mit denen auch die anderen Wissenschaften die Wirklichkeit betrachten.

Ich dagegen meine, dass solange sich der Staat diesen seltsamen Luxus erlaubt, konfessionell gebundene theologische Fakultäten an den staatlichen Universitäten zu betreiben, diese Fakultäten doch viel selbstverständlicher das tun sollten, wofür sie bezahlt werden – nämlich aus einer konfessorischen, also bekennenden Position heraus Stellung zu beziehen, was es für die Welt bedeuten würde, wenn das christliche Bekenntnis zu Gott als Schöpfer und zu Jesus als Erlöser und Erhalter dieser Welt, ja, dieses ganzen Universums, wahr wäre.

Werden Ratzingers Jesus Bücher in der wissenschaftlichen Theologie ernst genommen? Oder spielen sie im Diskurs keine Rolle?

Letzteres ist ganz sicher falsch. Aber nach dem großen Hype beim Erscheinen vor allem des ersten Bandes, wo gefühlt jeder seinen Kommentar dazu abgegeben hatte – einschließlich meiner selbst – wurde es doch deutlich stiller. Und ich glaube nicht, dass Studierende heute zu den Büchern von Ratzinger greifen, um im Examen damit punkten zu können.

Aber das sind auch die Grenzen dieser Bücher. Sie sind eine wissenschaftlich fundierte Anleitung, die Evangelien glaubend zu lesen. Aber sie sind nicht im technischen Sinn wissenschaftliche Jesus-Bücher. Sie sind eine Mischung aus Wissenschaft und religiöser Meditation. Und in diesem Sinn sind sie gut und hilfreich. Manche wichtigen Aspekte fehlen darin sogar ganz. Auch für dieses Buch gilt, was schon oft und seit langem über Jesusbücher insgesamt gesagt wird: Es gibt nichts Persönlicheres, als ein Jesus-Buch zu schreiben.

Denn der Jesus, den wir in unseren Büchern beschreiben, steht häufig einem Idealbild in unserem eigenen Kopf nahe. Und das ist die große Versuchung. Deswegen ist es auch gut, dass es mehr als ein Jesus-Buch gibt. Dasselbe Prinzip gilt für die Evangelien. Da haben wir vier ganz unterschiedliche Perspektiven auf Jesus, die ursprünglich auch für unterschiedliche Adressatengruppen geschrieben wurden. Niemand ist alleine in der Lage, alles von Jesus zu erkennen und zu begreifen.

Foto: Internationale Hochschule Liebenzell

Zur Person

Roland Deines ist Prorektor und Professor für Biblische Theologie und Antikes Judentum an der Internationalen Theologischen Hochschule Liebenzell. Im Sammelband „Mitarbeiter der Wahrheit“ hat er einen längeren Aufsatz über die Jesustrilogie von Josef Ratzinger veröffentlicht.

2006 hielt Joseph Ratzinger in Regensburg vor den deutschen Bischöfen eine wichtige Rede, in der er für „Entweltlichung“ plädierte. War es das, was er mit seinen Jesusbüchern erreichen wollte: Den Blick auf Jesus richten, statt sich von Nebensächlichkeiten ablenken zu lassen?

Damals gab es viel Kritik an seinem Begriff der „Entweltlichung“. Aber ich glaube, Ratzinger wurde damals falsch verstanden. Er wollte sagen, dass Kirche sich hüten muss, Institutionen am Leben zu erhalten, die sie nicht mehr mit dem Geist Gottes füllen kann.

Entweltlichung bedeutet in diesem Sinn, konsequenter einen Weg nach innen zu gehen und darauf zu verzichten, der Welt Vorschläge zu machen. Ratzinger hat gesehen, dass die Kirche zunächst wieder Kirche werden muss, bevor sie in der Welt gehört werden kann. Und genau das wurde ihm immer wieder vorgehalten: Dass er nicht die ganz großen medialen Auftritte geliefert hat, nicht die großen Reden gehalten, nicht die Massen begeistert und nicht die Medien befriedigt hat. Benedikt hat sich diesem Anspruch, vermarktbar zu sein, konsequent verweigert. Ich glaube, dass ihn das in Zukunft zu einer herausragenden Gestalt in der Geschichte der Kirche machen wird.

Er hat seinem eigenen Anspruch, durch, mit und in der Kirche Jesus Christus zu dienen, immer absolut den Vorrang gegeben. Er akzeptierte, dass das nicht alle verstehen können. Aber er erwartete, dass zumindest seine katholischen Mit-Bischöfe dieses verstehen. Das war nicht immer der Fall. Denn die Versuchung der gesellschaftlichen Akzeptanz ist eine große Gefahr für die Kirche.

Meinen Sie zum Beispiel den Synodalen Weg, den Reformprozess innerhalb der katholischen Kirche?

Das ist nur ein Symptom, die Versuchung liegt tiefer: Man will auf der Höhe der Zeit sein. Das ist wichtig und richtig. Aber das bedeutet nicht, nur oder vor allem das zu sein, was medial als Mehrheits- und als Lebensgefühl vermarktet wird. Sondern es geht darum, auf der Höhe der Zeit dem eigenen anvertrauten Auftrag treu bleiben – auch auf die Gefahr hin, nicht mehr von allen verstanden zu werden. Und das hat Papst Benedikt XVI. gemacht. In diesem Sinn war er eine prophetische Gestalt. Und Propheten sind eben immer in ihrer Zeit einsame Rufer in der Wüste. Ihr wahrer Wert wird sich erst in 50 oder 100 Jahren erweisen.

Wird das bei Ratzinger so sein?

Ich mir sicher, dass er als einer der ganz großen geistlichen Väter der Kirche wahrgenommen werden wird. Ob als erfolgreicher Papst, kann ich nicht beurteilen. Das ist mir als Protestant aber auch herzlich egal. Aber er wird als einer der großen geistlichen Väter in Erinnerung bleiben, der versucht hat, die biblische Offenbarung unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu Gehör zu bringen.

Drei ganz wesentliche „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“ zeichnen sein Erbe aus. In „Bibel und Moral“ beschreibt er das Stichwort einer „geoffenbarten Moral“: Christliche Ethik basiert auf Gottes Offenbarung und muss sich von dieser leiten lassen. Im Text „Verbum domini“ schreibt er, dass Kirche nur funktioniert, wenn sie auf dem inspirierten Wort Gottes begründet ist. Das ist zutiefst evangelisch, obwohl wir so etwas in evangelischen Verlautbarungen selten hören.

Zuletzt das Dokument „Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift“. Ein wunderbarer Text, wie ihn man ihn sich auch einmal von evangelischer Seite wünschen würde. Der Untertitel ist für mich die gelungenste Formulierung dessen, was die Bibel ist: „Das Wort, das von Gott kommt und von Gott spricht, um die Welt zu retten.“ Das ist genuine Sprache von Benedikt.

Das sind Texte, die auch evangelische Theologen studieren sollten. Und für die ich als evangelischer Theologe Papst Benedikt dankbar bin.

Vielen Dank für das Gespräch.

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