Putins Kriegsreligion

„Heiliger Krieg“, die Ukrainer als „Satanisten“ – und kirchlicher Segen für die Invasion: In Russlands Propaganda spielt Religion eine große Rolle. Sind das nur große Worte? Wie sich Russland im Kulturkampf mit dem liberalen Westen sieht.
Von Nicolai Franz
Patriarch Kyrill macht aus seiner Zustimmung zu Putins Politik keinen Hehl

Gojda!“, brüllt Iwan Ochlobystin in die Menge aus voller Kehle, das heißt „Heiliger Krieg“, und „Gojda! Gojda!“ soll nun auch der neue Schlachtruf der Russen im Krieg gegen die Ukraine sein. Ochlobystin ist eigentlich Schauspieler (aber auch beurlaubter Priester), doch bei seinem Auftritt Anfang Oktober 2022 auf dem Roten Platz in Moskau fungiert er vor allem als Kreml-Propagandist.

Gerade hat Russland Teile der Ukraine per Fake-­Referenden annektiert, es sind busseweise Zuschauer herangekarrt worden, damit auch laut genug gejubelt wird. Doch: Ist es denn wirklich ein „Heiliger Krieg gegen die Ukraine“, den Russland da führt?

„Russland befindet sich weniger in einem Heiligen Krieg gegen die Ukraine“, sagt der Historiker und Osteuropa-­Experte Jan Kusber im Gespräch mit PRO. „Sondern – zumindest für manche innerhalb der russischen Eliten und der orthodoxen Kirchenhierarchie – in einem Heiligen Krieg gegen den Westen an sich.“ Anders als im Kalten Krieg geht es aber nicht um den Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus.

Vielmehr hat das, was heute in der Ukraine geschieht, seinen Ursprung vor mehr als 1.000 Jahren: In der Taufe Wladimirs des Großen, Großfürst von Kiew, im Jahre 988. Der russische Präsident Wladimir Putin sieht in der geschichtlichen Figur „ein Symbol der Einheit aller Völker der historischen Rus“. Und damit meint er Belarus, Russland – und die Ukraine.

Seit 2001 spielt die Ideologie der „Russki Mir“ („Russische Welt“) eine zentrale Rolle in Putins geschichts- und außenpolitischer Haltung. „Die Leitung der russisch­-orthodoxen Kirche hat sich dieser Idee ein Stück weit angenommen“, erklärt der Kirchen­historiker Andreas Müller gegenüber PRO. Die Kirche habe schon im Jahr 2000 erklärt, dass Kirche und die nationale kulturelle Identität zusammen gehörten. „2009 gibt es dann die ersten expliziten Äußerungen der Kirche, die sich der Russki-Mir-Idee anschließt.“

Russlands Angst vor dem liberalen Westen

Demnach ist alles, wo das Russische präsent ist, Teil der russischen Einflusssphäre. Insbesondere die russische Sprache spielt dabei eine wichtige Rolle. Dieser Irrglaube ging so lange gut, wie Länder wie die Ukraine nicht auf den Gedanken kamen, eigene Wegen zu gehen oder sich gar gen Westen zu orientieren. Spätestens 2014 aber war klar, dass die Ukraine Teil der europäischen Familie werden wollte. Nach Putins Lesart konnte Russland das nicht zulassen, schließlich gehören für ihn die Gebiete der Kiewer Rus zusammen.

Auch Religion spielt hierbei eine Rolle. „Das Christentum gilt als verbindende Klammer der Wertegemeinschaft der Völker von Belarus, der Ukraine und Russlands. Und diese Wertegemeinschaft muss aus Sicht Putins wiederhergestellt werden“, sagt Müller.

Welche Werte es sind, die Russland offenbar angegriffen sieht, wird regelmäßig in russischen Propagandabotschaften deutlich: Insbesondere geht es um die gesellschaftsliberalen Werte des Westens wie die Gleichberechtigung der Frau oder die Stärkung der Rechte von nicht-heterosexuellen Menschen, die in Russland stark unterdrückt werden. Clips von besonders skurrilen Teilnehmern auf LGBT-Demonstrationen werden in Telegram-Gruppen herumgereicht, verbunden mit dem Subtext: Wenn wir nicht aufpassen, wird es bei uns auch so werden.

„Ein Grundproblem bei solchen Überlegungen ist, dass es so etwas wie die ‚verlorene westliche Welt‘ genauso wenig gibt wie die heilige Rus“, sagt Kirchenhistoriker Müller. In Russland sei etwa die Zahl von Abtreibungen enorm hoch, und das Land werde von Oligarchen beherrscht, „die auf grausame Weise gegeneinander vorgehen“, zudem sei Homosexualität „selbst unter Bischöfen kein Fremdwort“.

Manche russische Kreise gehen noch weiter, wie Experten PRO bestätigen. Demnach halten manche Russen Moskau für das „dritte Rom“ – für das wahre Zentrum der Christenheit, nachdem das Alte Rom und dessen Nachfolger Konstantinopel gefallen waren. Während der Westen vom Selbstbestimmungsrecht der Völker spricht, ist das Selbstbewusstsein der Ukraine für Russland Ausdruck des Abfalls vom Glauben.

Kyrill I. Foto: Sergey Pyatakov | CC BY-SA 3.0 Unported
Patriarch Kyrill gilt als enger Verbündeter Putins

Kriege sind immer auch Kriege der Worte. Im russisch-ukrainischen Krieg kämpfen eigentlich überwiegend Christen gegen andere Christen. Trotzdem verteufelt die russische Seite die Ukrainer regelmäßig als „Satanisten“.

Belege dafür fehlen freilich, doch das scheint keine Rolle zu spielen. Zum Beispiel für den Mann, der in einem Twittervideo als „Separatist und Terrorist“ der „Volksrepublik Do­nezk“ vorgestellt wird: „Es ist sehr wichtig für uns, ein Bild des Feindes zu schaffen, dass diese Ukrainer Russen sind, die von einem Dämon besessen sind.“ Der Separatist geriert sich gar als Missionar. Man komme ja nicht, um die Ukrainer zu töten. „Aber wenn du deine Einstellung nicht änderst, werden wir dich töten. Wir töten so viele wie nötig: eine Million, fünf Millionen, wir werden jeden ausradieren, bis du verstehst, dass du besessen bist und Heilung brauchst.“

Der rechtsextreme Kriegstreiber Alexander Dugin, den manche Experten für einen Vordenker Putins halten, schlägt in dieselbe Kerbe: „Die Bedingungen des gewinnenden Westens, dieser Satans-Zivilisation, werden für Moskau niemals akzeptabel sein.“

„Müssen die Sprache von Jesus sprechen“

Die eigentlich russisch-christliche Ukraine in den Klauen eines dämonischen Westens – es ist unklar, wie stark die russische Führung ihrer eigenen Propaganda glaubte. Doch manches spricht dafür, dass Putin selbst diesen Erzählungen mehr vertraute als der durch Fakten gesicherten Realität. Selbst im überwiegend russischsprachigen Cherson im tiefen Osten der Ukraine versagten die Menschen Putin die Gefolgschaft. Er erwartete jubelnde Menschen auf den Straßen. Die gab es auch, aber erst, als ukrainische Truppen die Stadt zurückeroberten.

Als die Russen kamen, demonstrierten die Einwohner, Partisanen verbreiteten Angst und Schrecken unter den Besatzern.

Ohne die Kirche wäre der russische Propaganda­-Erfolg kaum denkbar. Doch auch hier hat Russland das Nachsehen. Die Ukrainisch-orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats sagte sich am 27. Mai 2022 von Moskau los. Jetzt heißt sie nur noch „ukrainisch-orthodoxe Kirche“.

Ganz unverblümt bekennt sich der Moskauer Patriarch Kyrill I. – der als Priester wie Putin für den KGB arbeitete – zu einer unheiligen Verbindung von Glaube und Nation. Die Invasion begründete der Geistliche sogar gegenüber dem Papst. Der berichtete: „Die ersten zwanzig Minuten hat er mir mit einem Blatt in der Hand sämtliche russischen Rechtfertigungen für den Krieg aufgelistet.“ Er, Franziskus, habe geantwortet: „Bruder, davon verstehe ich nichts. Aber wir dürfen keine Staatskleriker sein, wir dürfen nicht die Sprache der Politik verwenden, wir müssen die Sprache von Jesus sprechen und für den Frieden einstehen.“

Dieser Text stammt aus der gedruckten Ausgabe der PRO, Ausgabe 6/2022. Sie können Sie hier kostenfrei abonnieren.

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