Protestanten in Deutschland: Die Mehrheit ist interessiert, gläubig und tolerant

In dieser Woche findet der 32. Evangelische Kirchentag in Bremen statt. Die Bertelsmann Stiftung in Gütersloh hat aus diesem Anlass im Rahmen ihres "Religionsmonitors" eine Bestandsaufnahme unter Deutschlands Protestanten vorgenommen. Und gefragt: Welche Bedeutung haben Religion und Glauben heute noch für evangelische Christen?
Von PRO

Von Norbert Osterwinter

Wenn in dieser Woche in Bremen wieder mehr als hunderttausend Christen beim evangelischen Kirchentag zusammenkommen, werden bekannte Bilder die Medien beherrschen: Locker beschwingte junge Leute im Freizeitlook, bundespolitische Politikprominenz, zahllose Kulturevents und Podiumsdiskussionen zu Themen von Klimaschutz bis zu Frauenfragen. Mit dem evangelischen Kirchentag verbinden sich seit Jahren auch Vorurteile und sogar negative Klischees: Jugendfestival … Jahrmarkt der Beliebigkeiten … Prominentenschau. Unbeteiligte Beobachter fragen häufiger: Und wo bleibt das eigentliche Thema der evangelischen Christen in Deutschland – Religion, Glaube und Gott? Haben  Deutschlands Protestanten inmitten der Welt ihren eigentlichen Bezugspunkt verloren? Sind sie nur noch formale Christen und ihre Kirche allenfalls noch eine Eventagentur im religiösen Gewand?

Die evangelische Antwort auf die Gretchenfrage

Das Bild des Kirchentages ist allenfalls ein Ausschnitt und in hohem Maße medial einseitig geprägt: Dies zeigt der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung. In einer repräsentativen und internationalen Untersuchung hat die Stiftung den Stellenwert und die Zentralität von Glaube und Religion untersucht und dabei ein Glaubensprofil der deutschen Protestanten erstellt.

Dieses Glaubensprofil des Religionsmonitors zeigt: Die Welt des deutschen Protestantismus und der Evangelischen Kirche ist viel intensiver religiös geprägt, als es das mediale Image eines Kirchentages nahe legt. Religion und Glaube haben bei der Mehrzahl der Protestanten in Deutschland einen vielfach höheren Stellenwert, als unterstellt wird, auch wenn sich dies bei den meisten mehr im Privaten als beispielsweise etwa im Kirchgang zeigt. Viele sind nach wie vor praktizierende Christen mit einem persönlichen und positiven Gottesbild, deren Glauben eine vielfältige Relevanz für ihre Identität aber auch im Alltagshandeln hat. Gleichzeitig zeigen sich Protestanten stark interessiert an der intellektuellen Auseinandersetzung mit Glaubensfragen, sie sind sehr tolerant und offen für andere Religionen mit einer geringen Neigung zur Missionierung.

Daneben finden sich unter den Mitgliedern der evangelischen Kirchen aber auch größere Gruppen von weniger „Frommen“, Menschen, deren Leben nur punktuell von religiösen Vorstellungen geprägt wird, und auch ausgesprochen unreligiöse Menschen. Aber die Evangelische Kirche ist weiterhin eine lebendige Volkskirche, mit der sich ihre Mitglieder vielfach eng verbunden fühlen. Und selbst im internationalen Vergleich brauchen die EKD und Deutschlands Protestanten nicht neidvoll auf Glaubensbrüder in anderen Ländern wie den USA oder lateinamerikanische Staaten blicken.

Wenn die Losung des Kirchentages fragt: „Mensch, wo bist Du?“, so will der  Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung vor allem wissen: „Mensch, was glaubst Du?“. Im Mittelpunkt steht die Frage: Welchen Stellenwert haben Glaube und Religion für den Einzelnen in den verschiedenen Glaubensrichtungen und Kulturen und welche Bedeutung nimmt diese Religiosität für die Gestaltung des Lebens ein? Die Erhebung unter über 20.000 Menschen in allen Hochreligionen des Globus anhand von über 100 Fragestellungen ergab eine bislang einzigartige Datensammlung. Die wissenschaftliche Publikation der umfangreichen Zahlen im Vorfeld des protestantischen Christentreffens ermöglicht darauf jetzt sehr detaillierte Antworten und differenzierte Interpretationen.

Hoher Stellenwert der Evangelischen Kirche

Die nach wie vor große Bedeutung der Evangelischen Kirche in Deutschland zeigt sich bereits in wenigen Basiszahlen. So gehören trotz intensiver Migration aus nichtchristlichen Ländern und Entkirchlichung in der ehemaligen DDR nach wie vor 70 Prozent der Menschen hierzulande einer christlichen Kirche an, unter ihnen mit 47 Prozent die meisten der Evangelischen Kirche. Es folgen im Anteil die Katholiken mit 45 Prozent. Den evangelischen Freikirchen gehören 3 Prozent der deutschen Christen an und zu den orthodoxen Kirchen zählen 1 Prozent. Auch in den neuen Bundesländern hat die evangelische Kirche einen herausgehobenen Stellenwert. Hier bekennen sich zwar nur noch 32 Prozent zum Christentum, aber davon sind immerhin 23 Prozent evangelisch, 7 Prozent katholisch und 2 Prozent Angehörige anderer christlicher Konfessionen. Insgesamt zählen die Evangelischen Kirchen in Deutschland heute zirka 25 Millionen Mitglieder.

Aber sind die deutschen Protestanten nicht nur formelle Kirchenmitglieder, sondern auch überzeugte und engagierte Christen? Der Religionsmonitor untersucht dies anhand zahlreicher Indikatoren, die zahlreiche Dimensionen religiöser Prägung beschreiben. Sein Fazit: Die deutschen Protestanten sind alles andere als reine Taufscheinchristen, doch es gibt auch die „Karteileichen“. Fast 80 Prozent der Kirchenmitglieder können danach als eindeutig religiös eingestuft werden, 14 Prozent sogar als ausgesprochen hochreligiös. Diese höchste Bewertung nahmen die Wissenschaftler nur vor, wenn die Befragten in allen Kategorien der Untersuchung sehr hohe Werte aufwiesen. Mit 17 Prozent kann aber auch fast jedes fünfte Kirchenmitglied als gar nicht religiös bezeichnet werden. Im Vergleich dazu finden sich unter den Katholiken in Deutschland mit 27 Prozent zwar deutlich mehr Hochreligiöse, aber der Anteil der Nichtreligiösen ist mit 15 Prozent nahezu gleich ausgeprägt.

Kein zürnender Gott – Positive Gottesvorstellungen

Wie stark aber ist der Glaube der deutschen Protestanten und was glauben sie konkret, wenn sie nach Gott oder anderen religiösen Vorstellungen gefragt werden? Gegenüber den Interviewern des Religionsmonitors erklären 70 Prozent, sie glauben, dass es einen Gott oder etwas Göttliches gibt, über 40 Prozent glauben dies sogar ziemlich oder sehr stark. Allerdings kann sich jeder Vierte dies auch gar nicht oder nur wenig vorstellen. Ebenfalls 30 Prozent der evangelischen Christen glauben aber nicht an einen Kernsatz des protestantischen Glaubensbekenntnisses: die Wiederauferstehung und ein Leben nach dem Tod.

Umgekehrt beschreiben 30 bis 40 Prozent sehr intensive und persönliche Gottesvorstellungen: Das Gefühl, dass Gott in ihr persönliches Leben eingreift, dass sie einem Gott gegenüberstehen, zu dem man persönlich sprechen kann, der sich mit einem persönlich befasst und das Leben sogar nur eine Bedeutung für sie hat, weil es einen Gott und ein Leben nach dem Tode gibt.

Im Gegensatz zu manchem Klischee über die protestantischen Glaubenstraditionen eines alttestamentarischen, zürnenden Gottes verbinden Deutschlands evangelische Christen heute dabei in ihrer weit überwiegenden Mehrheit mit ihrem Gott Vorstellungen von Hoffnung (73 Prozent), Dankbarkeit (71 Prozent), Geborgenheit (60 Prozent), Liebe (58 Prozent). Nur eine kleine Minderheit assoziiert mit ihm Vorstellungen von Zorn, Schuld oder Befreiung von bösen Mächten. Darüber hinaus sind evangelische Christen stark rational geprägt. Zwei Drittel lehnen Astrologie oder den Glauben an übersinnliche Mächte ab und sogar 90 Prozent die Vorstellung von Dämonen. Knapp die Hälfte glaubt dagegen an die Macht von Engeln.

Alte fromm und Junge lau?

Die populären Bilder der vielen jungen Teilnehmer an den evangelischen Kirchentagen verzerren ein Stück weit die Realität, wie sie die Erhebung ermittelt. Danach prägen Religion und Glaube bei den älteren Protestanten das Leben in höherem Maße. In der Altersgruppe über 60 Jahren können 83 Prozent als religiös eingestuft werden, 25 Prozent von ihnen sogar als hochreligiös. Bei den Jüngeren unter 30 Jahren beträgt der Anteil der Religiösen immerhin noch 67 Prozent, davon sind aber gerade 6 Prozent ausgesprochen hochreligiös.

So beschreiben drei Viertel von ihnen, dass sie oft oder sehr oft über Leid und Ungerechtigkeit in der Welt nachdenken. Die Mehrheit (57 Prozent) erklärt, dass sie ihr tägliches Leben nach den christlichen Geboten ausrichtet.  Und sogar 90 Prozent bemühen sich nach eigenen Angaben, Gesetz und Ordnung zu respektieren. Danach gefragt, auf welche Lebensbereiche sich ihr Glaube am meisten auswirke, erklären drei Viertel, vor allem bei ihrem Umgang mit wichtigen Lebensereignissen in ihrer Familie, wie Geburt, Heirat oder Tod. Auch das scheinbar große ökologische Bewusstsein der Protestanten in Deutschland ist kein Klischee. Denn an zweiter Stelle der von ihrem Glauben geprägten Lebensbereiche nennen sie den Umgang mit der Natur. Es folgen die Erziehung der Kinder und die Partnerschaft. Die Freiheit eines Christenmenschen beziehen Protestanten in Deutschland heute auch auf ihre politische und sexuelle Mündigkeit. Am wenigsten würden ihre Sexualmoral und ihre politische Einstellung durch Religion und Glaube bestimmt.

Tolerant und wenig missionarischer Eifer

Zu den Besonderheiten des Profils der deutschen Protestanten gehört ihr hohes Maß an religiöser Toleranz, ihre Offenheit, aber damit auch verbunden ein gering entwickelter missionarischer Eifer. Nicht einmal jeder Zehnte stimmt der Aussage zu: „Ich versuche möglichst viele Menschen für meine Religion zu gewinnen.“ Drei Viertel lehnen dies für sich klar ab. Nur jeder Fünfte ist bereit, für seine Religion auch große Opfer zu bringen. Eine große Mehrheit meint dagegen, dass jede Religion einen wahren Kern habe. Weniger als 10 Prozent der Protestanten sind der Überzeugung, dass vor allem die eigene Religion Recht habe und das vor allem die eigene Religion zum Heil führe. Dagegen meinen 83 Prozent,  man sollte gegenüber anderen Religionen offen sein. Ein erstaunlicher Anteil von fast 25 Prozent bekennt sich sogar als „Religionskomponisten“, die auf Lehren unterschiedlicher religiöser Traditionen zurückgreifen.

Der Autor, Norbert Osterwinter, ist Mitarbeiter der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh.

Weitere Informationen:
www.kirchentag.de
www.religionsmonitor.de

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