Kinder, die als Kleinkind eine sichere Bindung entwickelt
haben, haben mehr Mitgefühl , sagt Ingrid Eissele, Autorin des Buches
"Kalte Kinder". In ihrem Buch beschreibt sie, woran es liegt, wenn Kinder
keine Empathie zeigen. Für die Titelgeschichte "Generation Gewalt" der neuen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro sprach Ellen Nieswiodek-Martin mit der
"Stern"-Journalistin.
Von PRO
Foto: Uli Reinhardt/ Zeitenspiegel
pro: Sie schreiben, Eltern von Kleinkindern wissen viel über intellektuelle Anregungen für ihr Kind und wenig über seine Herzensbildung. Wie meinen Sie das?
Ingrid Eissele: Die meisten Eltern wissen sehr viel darüber, wie sie die intellektuelle Entwicklung ihres Kindes fördern können. Wie wichtig die soziale Bildung ist – dass ein Kind lernt, wie es mit anderen umgehen und klarkommen kann – geht daneben oft unter.
Sie schreiben in Ihrem Buch viel über die Mütter. Welche Verantwortung haben Väter für die Bindungsfähigkeit des Kindes?
Meiner Ansicht nach hat der Vater dieselbe Verantwortung gegenüber dem Kind wie die Mutter. Naturgemäß ist das biologische Band zwischen Mutter und Kind in den ersten Monaten sehr intensiv. Aber ein Vater kann sich genauso fürsorglich um ein Kind kümmern wie die Mutter.
Experten sagen die Ausprägung von gewalttätigem Verhalten bei Jugendlichen werde brutaler. Wie erklären Sie sich diese Veränderung?
Es gibt dazu kaum Untersuchungen aus früheren Jahrzehnten, das macht den Vergleich schwierig. Ich glaube allerdings, dass die sozialen Netzwerke früher besser und tragfähiger waren. Da hatte ein Kind eher jemanden, zu dem es flüchten konnte, wenn es in der Familie drunter und drüber ging. Durch die Zersplitterung von Beziehungen leben Menschen heute isolierter, einsamer.
Es gibt viele Erklärungen dafür, dass Jugendliche gewalttätig werden. Sie heben in Ihrem Buch die Bedeutung der Bindung besonders hervor. Warum?
Empathie ist Grundlage des menschlichen Miteinanders, das funktioniert nicht ohne verlässliche Bindungen. Wir haben zwar eine genetische Grundausstattung, aber wir lernen vom ersten Lebenstag an, soziale Wesen zu sein und die Signale des Anderen wahrzunehmen. Wie gut ein Kind das lernt, hängt davon ab, wie die Eltern seine Gefühle und Bedürfnisse spiegeln und beantworten: Waren sie verlässlich in ihren Reaktionen oder reagierten sie widersprüchlich oder überhaupt nicht?
Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Bindung und dissozialem Verhalten?
Kinder, die sicher gebunden sind, sind in der Regel empathischer und sozial seltener auffällig. Kinder, die unsicher gebunden sind, haben Probleme, ihrer eigenen Gefühle sicher zu sein. Empathiegestörte interpretieren ein trauriges Gesicht beispielsweise wie einen Smiley mit heruntergezogenen Mundwinkeln, also ohne innere Anteilnahme, sie lesen die Botschaft des anderen höchstens rational, nicht mit dem Herzen. Empathie ist aber nicht nur die Fähigkeit, sich in die Lage des Anderen zu versetzen, sondern auch eine Art innere Selbstbestrafung. Es ist einem empathischen Menschen unangenehm, sich vorzustellen, wie das ist, einem anderen Menschen weh zu tun oder gar gegen den Kopf zu treten. Das kann ich nur aushalten, wenn ich nicht wahrnehme oder verdränge, was im anderen passiert. Empathie wirkt also wie eine Beißhemmung.
Demnach kann ein Kind, das von seinen Eltern wenig Empathie erfahren hat, diese auch nicht weitergeben?
Doch, denn es gibt Schutzfaktoren. In Untersuchungen stellte sich heraus, dass es im Leben von Kindern, die trotz schlechter Bedingungen zu sozial unauffälligen und stabilen Menschen heranwuchsen, mindestens eine Person gab, die dem Kind dauerhaft Zuneigung und Sicherheit gegeben hat. Das muss nicht immer die Mutter sein, es kann auch eine Oma, ein Lehrer oder eine Patentante sein.
Sollten wir Erziehung in der Schule lernen?
Das ist eine interessante Idee. Dass man Kindern und Jugendlichen beibringt, was ein Baby braucht, was in der Gefühlswelt eines kleinen Kindes passiert, wäre eine gute Sache. Die Antennen für die Bedürfnisse des anderen zu trainieren, würde sicher auch das Klassenklima verbessern und die Lehrer entlasten.
Was wünschen Sie sich von der Familienpolitik?
Dass sie Eltern in den ersten Lebensjahren eines Kindes mehr unterstützt. Und dass Lehrer gestärkt werden, die gezielt etwas für das soziale Miteinander tun. Es ist wesentlich billiger, Geld in frühe Hilfen und mehr Qualität in Kindergärten und Schulen zu investieren, als später Sozialtherapien in den Justizvollzugsanstalten zu finanzieren. Außerdem sind im Kleinkind-oder Grundschulalter die Erfolgsaussichten besser als bei 18-Jährigen, die eine lange Prägung hinter sich haben. Es geht aber nicht nur um Geld: Es geht um unsere Kinder. Und die sollten uns etwas wert sein.
Vielen Dank für das Gespräch!
"Kalte Kinder – Sie kennen kein Mitgefühl. Sie entgleiten uns", Ingrid Eissele, Herder Verlag, 2009, 220 Seiten, 18,95 Euro
https://www.pro-medienmagazin.de/345.html
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