Rund 50 Millionen deutsche Bürger, das sind etwa 56 Prozent der Bevölkerung, gehören einer der beiden großen Kirchen an. Dazu kommen die Gläubigen der Freikirchen und orthodoxen Kirchen. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge leben derzeit rund 4,5 Millionen Muslime unterschiedlichster Strömungen in Deutschland. Neben den Christen prägen Sunniten, Schiiten und Ahmadiyya, Jesiden, Aleviten, Bahaí, Hindu, Sikh und Buddhisten die religiöse Landkarte in Deutschland. Bei einem Fachgespräch auf Einladung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am Mittwoch im Deutschen Bundestag haben Politiker, Religionsvertreter und Experten über Chancen und Perspektiven dieser religiösen Vielfalt diskutiert.
Der religionspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Franz Josef Jung, sieht in der Vielfalt der Religionen sowohl eine Bereicherung, als auch eine Herausforderung für die Gesellschaft. Jung begrüßte, dass rund 100.000 Menschen jüdischen Glaubens nach den Schrecken des Holocausts wieder in Deutschland lebten und sich in Gemeinden organisierten. Jung unterstrich die Neutralität des Staates in Religionsfragen, aber auch den Artikel 4 des Grundgesetzes, der die Religionsfreiheit garantiert. Er verurteilte die Verfolgung von Menschen aus Glaubensgründen.
„Es kann nich angehen, dass Christen in Flüchtlingsheimen drangsaliert werden, oder ein gewaltsamer Anschlag auf einen Rabbi hier in Berlin oder auf eine Mosche in Dresden stattfindet“, sagte Jung. „Gewalt gegen Religion darf es in unserem Land nicht geben, es gilt die Religionsfreiheit.“ Jung forderte eine respektvolle und sachliche Debatte und würdigte das Recht von Kirche und Religion zur Selbstverwaltung und deren Funktion als „kooperative Partner des Staates in den Querschnittsaufgaben zur Wohlfahrt“. In Deutschland seien Staat, Kirchen und Religionen getrennt, doch auch in einem kooperativen Verhältnis einander zugewandt. Als Beispiel nannte Jung den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen.
Gleiches Recht für alle Religionen
Christian Hillgruber, Professor für öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Kirchenrecht an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, betonte in einem Referat die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit, „seine Glaubenswahrheit auf einem selbstgewählten Weg“ zu suchen. „Wo Freiheit herrscht, ist Raum für Vielfalt“, sagte Hillgruber. Die Glaubenfreiheit gelte als solche auch den „Außenseitern und Sektierern“ zur ungestörten Entfaltung ihrer subjektiven Überzeugungen. „Soviel Vielfalt wie heute war in der Tat noch nie“, sagte Hillgruber. In der multireligiösen Gesellschaft müsse der Staat die religiöse Neutraliät waren, in der sich die zu wahrende Religionsfreiheit spiegele. Was Christen für sich beanspruchten, stehe auch allen anderen Religionen zu.
Auf der Basis des Grundgesetzes habe sich eine bewährte Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften herausgebildet. Dazu gehöre beispielsweise der Religionsunterricht an Schulen. „Die noch immer weit verbreitete Ansicht, dass die muslimischen Gemeinschaften auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein werden, die damit verbundenen organisatorischen Anforderunge zu erfüllen, teile ich nicht“, sagte Hillgruber. Dazu müssten die muslimischen Gemeinden allerdings körperschaftlich verfasst sein, um die Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen durchführen zu können. Eine Gesamtrepräsentation der Muslime in Deutschland sei dazu nicht notwendig.
Christliche Prägung Deutschlands nicht gesichert
Hillgruber sieht in der religiösen Pluralität durchaus auch Potential für soziale Konflikte. Religiöse Gewissheiten könnten auch desintegrierend wirken und elitäres Sonderbewusstein produzieren oder Fanatismus hervorrufen. Hillgruber geht davon aus, dass die religiöse Vielfalt auch unser Werteverständnis beeinflusst. „Grundlegende Veränderungen in der Zusammensetzung einer Gesellschaft in religiöser Hinsicht sind nicht nur rechtssoziologisch von Interesse, sondern natürlich auch gesellschaftspolitisch von Relevanz“. Dadurch verändere sich unvermeidlich auch der Werthaushalt der Gesellschaft. „Die neue religiöse Vielfalt und Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen Religionen wird politische Wirksamkeit entfalten.“ Die bisher maßgeblich christliche Prägung Deutschlands sei für die Zukunft keineswegs gesichert. Dazu trage auch eine wachsende religöse Teilnahmslosigkeit und ein zunehmend aggressiver werdender Atheismus bei. Christen müssten daher aktiv werden und als engagierte Staatsbürger für den christlichen Glauben werben, wenn sie die christliche Prägung des Landes erhalten wollten.
Integration nach jüdischem Vorbild
Prälat Karl Jüsten, Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe, forderte ein gemeinsames Eintreten für die bestehende Rechtsordnung. „Menschen, die sich ihres eigenen Glaubens sicher sind, müssen keine Angst vor anderem Glauben haben“, erklärte Jüsten. Wenn Christen glaubensstark und glaubenssicher seien, bestehe kein Grund zur Beunruhigung, wenn Menschen anderen Glaubens diesen lebten. Wenn die Christen diese Kraft aufbrächten, könnten sie weiterhin die Kultur prägen. Von allen Religionsgemeinschaften dürfe man verlangen, sich in diese Kultur einzufinden. Es gelte, auch Neues auszuhalten. Den Religionsgemeinschaften, die junge Menschen ansprechen, könne man dies nicht zum Vorwurf machen. Es gelte, als Christen die pluralistische Gesellschaft mitzugestalten, indem man „fröhlich“ seinen Glauben lebe und praktiziere.
Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrates der Juden in Deutschland, appellierte an die muslimische Religionsgemeinschaft, sich verstärkt um die Integration muslimischer Migranten zu bemühen. Als Beispiel für gelunge Integration führte Botmann die jüdische Zuwanderung nach Deutschland an. Die jüdische Community sei in wenigen Jahren von rund 25.000 Mitgliedern vor allem durch Zuwanderung auf etwa 100.000 Mitglieder angewachsen. „Die jüdischen Zuwanderer, die nach Deutschland gekommen sind, sind in ein soziales Netz der jüdischen Gemeinden gekommen.“ Die Gemeinden hier hätten die Zuwanderer in die religiöse Gemeinschaft aufgenommen aber auch in das gesellschaftliche Leben. Bundesweit hätten die jüdischen Gemeinden Integrationskurse angeboten, Deutschunterricht und politische Bildung.
„Der Erfolg dieser Zuwanderung liegt in der Community, die sich um die Leute gekümmert hat.“ Eine funktionierende religiöse Gemeinschaft, die sich zu den Grundwerten des Staates und der Verfassung bekenne, könne viel stärker auf Integration hinwirken, als das durch den Staat erzwungen werden könne. „Da sollten wir hinkommen auch bei den Geflüchteten, die in der letzten Zeit nach Deutschland gekommen sind.“
Kirchengeschichtler warnt vor Alarmismus
Christoph Markschies, Professor für Ältere Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, forderte mehr Zeit für die bewusste Entscheidung, um pluralismusfähig zu werden. „Bildung ist schlechterdings zentral, um pluralismusfähig zu werden“, sagte Markschies. „Mit Wissen ist die Welt besser zu bedienen.“ Es gelte sicherzustellen, dass das notwendige Wissen vermittelt werde, um sich in der Pluralität angemessen zu verhalten und die klaren Grenzen der Rechtsordnung zu verstehen. Vielfalt könne mit strengen Wertevorstellungen vereinbart werden, erklärte Markschies und warte vor „Alarmismus“.
Bekim Agai, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islam und Professor für Kultur und Gesellschaft des Islam in Geschichte und Gegenwart an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, sprach sich dafür aus, zuerst den Muslimen ihre eigene Pluralität zu vermitteln. Viele der Gemeinschaften hätten sich um eine Auslegung des Islam gebildet. Es gelte, eine Kultur zu finden, mit der sich Muslime untereinander in ihrer Vielfalt respektieren und anerkennen, dass es zu theologischen Fragen verschiedene Antworten und Wahrheitsüberzeugungen gibt. Agai wünschte sich dazu innerislamische Bildung und Demokratieerziehung. „Die Muslime werden hier in Deutschland mit ihrer eigenen Vielfältigkeit konfrontiert und müssen diese untereinander behandeln und dann mit der Gesellschaft“, sagte Agai.
Burka, Polygamie, Frauenrechte: Debatten sind notwendig
Ahmad Mansour, Sprecher des Muslimischen Forums Deutschland, sieht vor allem bei der Schulbildung Nachholbedarf. „Die Jugendlichen [Anmerkung: mit Migrationshintergrund], die in dritter oder vierter Generation hier zur Schule gehen, werden nicht angesprochen in den Themen, die sie interessieren“, sagte Mansour. Den Jugendlichen werde kein „Wir-Gefühl“ vermittelt, das sie erkennen lasse, dass sie unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung Teil dieser Gesellschaft seien. Es gelte, im Sinne der Aufklärung die heiligen Texte in einen aktuellen Bezug zu setzen.
„Wir brauchen Schulen, die Aufklärung und kritisches Denken fördern.“ Seiner Ansicht nach sollten Kinder im Religionsunterricht nicht nach religiöser Zugehörigkeit getrennt werden. „Es wird uns gut tun, wenn alle Kinder von den anderen Religionen erfahren“, sagte Mansour. Er glaube nicht, dass die Flüchtlinge eine homogene Gruppe sind. Ebensowenig die Muslime. Mansour vermisst zudem eine Debatte über Themen wie Kinderehen, Burka, Polygamie, Frauenrechte. Für viele Muslime seien die Grundgesetze eine Herausforderung, die man nicht über Gesetze regeln könne. Tabuisierung würde die Probleme nicht aus der Welt schaffen. „Wir müssen den Mund aufmachen und in der Mitte der Gesellschaft differenziert über die Themen diskutieren.“ Es gelte, vestärkt eine Wertediskussion zu führen.
Muslimische Verbände in die Pflicht nehmen
Die Jesidin und freie Journalistin Düzen Tekkal bezeichnete es als eine „Bankrotterklärung“ wenn Christen, Jesiden und andere religiöse Minderheiten in den Flüchtlingsunterkünften ihre Religion verleugneten, um nicht Repressalien ausgesetzt zu sein. „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Verteidigung unserer Werte auch verhandelt werden im Mittleren und Nahen Osten, denn dort wird Leben ausgelöscht aufgrund der Religion“, sagte Tekkal. In den Schulen müssten die Themen behandelt werden. Tekkal nannte es „christliche Selbstverleugung“ mit Symbolwirkung, wenn das Kreuz von Würdenträgern abgelegt werde, und forderte selbstbewusstes Auftreten auch von Christen. Ihrer Ansicht nach müssten die islamischen Verbände bei der Vermittlung rechtsstaatlicher, demokratischer Prinzipien stärker in die Pflicht genommen werden. Die Frage sei nicht: „Wie hältst du es mit der Religion?“, sondern: „Wie hältst du es mit dem Grundgesetz?“
Auf Anfrage von pro erklärte der Beauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) beim Deutschen Bundestag und am Sitz der Bundesregierung, Uwe Heimowski, zu dem Fachgespräch: „Es wurde nichts schöngeredet und eine Reihe von Anregungen gegeben. Jung und Tekkal betonen, dass es Gewalt gegen Christen und Jesiden auch in Deutschen Flüchtlingsunterkünften gibt, sie fordern, das deutlicher zu machen, und Konsequenzen zu ziehen. Als Deutsche Evangelische Allianz können wir das nur unterstreichen.“ Heimowski begrüßte die geforderten Debatten zur Rolle der Frau im Islam, zur Kinderehe und Polygamie. „Wir müssen diese Themen kontrovers und differenziert diskutieren und auch an den Schulen schon zum Thema machen. Wenn die Mehrheit dazu nichts sagt, werden Radikale die Antworten geben“, erklärte Heimowski.
Die Diskussion dürfe dabei nicht von falscher Scheu geleitet werden, „Unrecht auch Unrecht zu nennen“. Heimowski bemängelte, dass bei der innermuslimischen Ökumene die Islamverbände „leider keine gute Rolle“ spielten. Der DEA-Vertreter begrüßte die Forderung Jüstens, als Christen des eigenen Glaubens gewisser zu werden und so selbstbewusst in einen Dialog einzutreten. Heimowski würdigte die Leistung der jüdischen Gemeinden bei der Integration von 75.000 Migranten durch Bildung zur Religion, zur Sprache, zur Kultur und zum Grundgestz. „Nun sind auch Moscheegemeinschaften in der Pflicht, Muslime zu integrieren“, erklärte Heimowski. (pro)Israel: Haben Bischöfe nicht um Abnahme der Kreuze gebeten (pro)
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