„Erdoğan macht Geflüchtete zum Spielball“

Die Türkei droht, Millionen Flüchtlinge nach Europa zu lassen. Die Lage auf den griechischen Inseln spitzt sich zu. Alexander Hirsch unterstützt mit dem Verein „Offene Arme“ die Flüchtlingshilfe auf Chios. Im Interview fordert er, dass die EU Griechenland nicht weiter alleine lässt.
Von PRO
Das Camp Moria auf Lesbos war schon vor den neuesten Entwicklungen hoffnungslos überlastet (Archivbild)

pro: Uns erreichen Bilder von tausenden Menschen, die von der Türkei nach Griechenland wollen. Warum ist die Lage jetzt so eskaliert?

Alexander Hirsch: Fakt ist: Die Not war nie weg, sie war nur woanders. Die Türkei hat etwa 3,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. In Syrien haben sich mehrere Millionen Menschen nach Idlib als letzte Enklave zurückgezogen, die nicht von Assad beherrscht wird. Der türkische Präsident Erdoğan führt genauso wie sein russischer Kollege Putin mit großer Grausamkeit Krieg in Syrien.

Der türkische Präsident hat gedroht, Flüchtlinge nach Griechenland durchzulassen.

Durch die Aktion von Erdoğan werden Geflüchtete zum Spielball. Er schickt Flüchtlinge zum Teil mit Gratisbussen an die Grenze. Im türkischen Fernsehen sind Schlepper öffentlich aufgetreten, die auch nicht verhaftet wurden, sondern ihre Taten anpreisen durften. Erdoğan folgt nicht einem humanitären Impuls, diesen armen Menschen zu helfen. Stattdessen will er Griechenland und die EU destabilisieren.

Eigentlich gilt noch der Deal: Die Türkei lässt keine Flüchtlinge nach Europa – und bekommt dafür Geld.

Es sollte eigentlich Kontingentlösungen geben, damit Flüchtlinge auch legal Asyl in Europa bekommen können. Dazu ist es aber zumindest im großen Umfang nie gekommen. Dafür sind die Flüchtlingszahlen radikal gesunken. Der Deal von 2016 bedeutete für Erdoğan: Ich halte euch die Leute vom Leib, und ihr gebt mir sechs Milliarden Euro. Davon sind etwa drei Milliarden vor allem an zivilgesellschaftliche Organisationen geflossen. Erdoğan reicht das aber nicht. Er will auch Unterstützung für seinen Krieg in Syrien – und deswegen droht er mit Millionen von Flüchtlingen, sollte das nicht geschehen.

Deutschland hat 2015 knapp eine Million Flüchtlinge aufgenommen – und war damit teils überfordert. Wie soll die Türkei es dann schaffen, 3,5 Millionen Menschen zu versorgen?

Das ist ein Problem. Die Türkei leidet an einer Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit und die Inflation steigen. Die Drecksjobs, die früher Flüchtlinge übernommen haben, werden daher auch für Türken attraktiver. Seit dem vergangenen Herbst sind die Flüchtlingszahlen in Griechenland wieder gestiegen, auch weil diejenigen, die eine Arbeit in der Türkei hatten, dort aus Jobs und Wohnungen von ärmer werdenden Türken vertrieben wurden.

pro: Uns erreichen Bilder von tausenden Menschen, die von der Türkei nach Griechenland wollen. Warum ist die Lage jetzt so eskaliert?

Alexander Hirsch: Fakt ist: Die Not war nie weg, sie war nur woanders. Die Türkei hat etwa 3,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. In Syrien haben sich mehrere Millionen Menschen nach Idlib als letzte Enklave zurückgezogen, die nicht von Assad beherrscht wird. Der türkische Präsident Erdoğan führt genauso wie sein russischer Kollege Putin mit großer Grausamkeit Krieg in Syrien.

Der türkische Präsident hat gedroht, Flüchtlinge nach Griechenland durchzulassen.

Durch die Aktion von Erdoğan werden Geflüchtete zum Spielball. Er schickt Flüchtlinge zum Teil mit Gratisbussen an die Grenze. Im türkischen Fernsehen sind Schlepper öffentlich aufgetreten, die auch nicht verhaftet wurden, sondern ihre Taten anpreisen durften. Erdoğan folgt nicht einem humanitären Impuls, diesen armen Menschen zu helfen. Stattdessen will er Griechenland und die EU destabilisieren.

Eigentlich gilt noch der Deal: Die Türkei lässt keine Flüchtlinge nach Europa – und bekommt dafür Geld.

Es sollte eigentlich Kontingentlösungen geben, damit Flüchtlinge auch legal Asyl in Europa bekommen können. Dazu ist es aber zumindest im großen Umfang nie gekommen. Dafür sind die Flüchtlingszahlen radikal gesunken. Der Deal von 2016 bedeutete für Erdoğan: Ich halte euch die Leute vom Leib, und ihr gebt mir sechs Milliarden Euro. Davon sind etwa drei Milliarden vor allem an zivilgesellschaftliche Organisationen geflossen. Erdoğan reicht das aber nicht. Er will auch Unterstützung für seinen Krieg in Syrien – und deswegen droht er mit Millionen von Flüchtlingen, sollte das nicht geschehen.

Deutschland hat 2015 knapp eine Million Flüchtlinge aufgenommen – und war damit teils überfordert. Wie soll die Türkei es dann schaffen, 3,5 Millionen Menschen zu versorgen?

Das ist ein Problem. Die Türkei leidet an einer Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit und die Inflation steigen. Die Drecksjobs, die früher Flüchtlinge übernommen haben, werden daher auch für Türken attraktiver. Seit dem vergangenen Herbst sind die Flüchtlingszahlen in Griechenland wieder gestiegen, auch weil diejenigen, die eine Arbeit in der Türkei hatten, dort aus Jobs und Wohnungen von ärmer werdenden Türken vertrieben wurden.

Grenzen werden scharf bewacht

Droht uns jetzt ein zweites Jahr 2015, wo extrem viele Menschen auch nach Deutschland gekommen sind?

Die Frage ist, ob „drohen“ der richtige Begriff ist. Ich empfand das humanitäre Verhalten Deutschlands als Sternstunde.

Es entstand an mehreren Stellen aber auch der Eindruck: Der Staat hat die Kontrolle verloren, wir wissen nicht einmal, wer das Land betritt.

2015 hat gezeigt, was passiert, wenn man an kritischen Stellen Verwaltungspersonal abbaut und keine Pläne für Notfallsituationen hat – zumal seit März bekannt war, dass eine große Zahl von Flüchtlingen unterwegs ist. Die Zivilgesellschaft hat aber gezeigt, wie man gut reagieren kann. Fakt ist: Die Grenzen werden scharf bewacht, zum Teil menschenrechtswidrig. Es ist heute deutlich gefährlicher für Leib und Leben, über die Balkanroute einzureisen. Aber auch Griechenland reagiert ausgesprochen rabiat. Die griechische Regierung hat das Asylrecht außer Kraft gesetzt, laut Vereinten Nationen ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte. Seit letztem Sommer ist dort eine nationalkonservative Regierung an der Macht, die die Arbeit von Hilfsorganisationen erschwert.

Der Wind hat sich also gegen die Flüchtlinge gedreht.

Die griechische Regierung reagiert auf Flüchtlinge mit Tränengas und sogar scharfer Munition. An der griechisch-türkischen Grenze wurde ein syrischer Flüchtling erschossen. In der Ägäis gerieten Schiffe in Seenot, doch die Küstenwache, die in Sichtweite war, griff nicht ein. Wir haben erlebt, wie Boote der Küstenwache sogar absichtlich Wellen erzeugten. Auf einem Video ist zu sehen, wie die Küstenwache einem Flüchtligsboot vor den Bug schießt, um es zum Kentern zu bringen. Von den Türken kannten wir das, bei den Griechen ist das neu.

Auf der anderen Seite ist Griechenland auch im Stich gelassen worden. Hat die EU die letzten fünf Jahre geschlafen?

Das ist der dritte Baustein für die aktuelle Krise: Der Rest von Europa hat Griechenland allein gelassen.

Was muss die EU jetzt tun?

Die Camps müssen geräumt werden. Und zwar nicht mit Tränengas und Abschiebungen, weil es hier um Menschen geht, die ihren Schutzanspruch prüfen lassen wollen. Wir müssen jetzt schnell großzügige Kontingente aus den Inseln holen und in den EU-Mitgliedsstaaten aufnehmen. Wir müssen Griechenland entlasten und den Menschen, die verwahrlost in Camps hausen, eine menschenwürdige Unterkunft geben. Sie brauchen rechtsstaatliche Asylverfahren. Das ist keine Frage von Nettigkeiten, sondern internationales Recht, das uns dazu verpflichtet. Und wir dürfen uns von Erdoğan nicht weiter erpressen lassen. Wenn wir humanitär reagieren würden, hätte er nichts in der Hand.

Sie sind nicht nur in der Flüchtlingsarbeit engagiert, sondern sind auch Pastor. Was sagen Sie als Christ dazu?

Ich lese seit einiger Zeit vermehrt im Buch der Sprüche und bin erstaunt, wie häufig darin die Rede davon ist, Notleidenden zu helfen. Menschen in Not zu helfen, das ist nicht links oder liberal, sondern biblisch. Gleichzeitig setzen auch manche Christen noch auf Abschreckung. Da verschlägt es mir die Sprache. Seit dem Jahr 2000 sind 30.000 Menschen im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken. Ich frage mich: Wie viele müssen noch ertrinken, damit wir verstehen, dass Abschreckung nicht funktioniert?

Droht uns jetzt ein zweites Jahr 2015, wo extrem viele Menschen auch nach Deutschland gekommen sind?

Die Frage ist, ob „drohen“ der richtige Begriff ist. Ich empfand das humanitäre Verhalten Deutschlands als Sternstunde.

Es entstand an mehreren Stellen aber auch der Eindruck: Der Staat hat die Kontrolle verloren, wir wissen nicht einmal, wer das Land betritt.

2015 hat gezeigt, was passiert, wenn man an kritischen Stellen Verwaltungspersonal abbaut und keine Pläne für Notfallsituationen hat – zumal seit März bekannt war, dass eine große Zahl von Flüchtlingen unterwegs ist. Die Zivilgesellschaft hat aber gezeigt, wie man gut reagieren kann. Fakt ist: Die Grenzen werden scharf bewacht, zum Teil menschenrechtswidrig. Es ist heute deutlich gefährlicher für Leib und Leben, über die Balkanroute einzureisen. Aber auch Griechenland reagiert ausgesprochen rabiat. Die griechische Regierung hat das Asylrecht außer Kraft gesetzt, laut Vereinten Nationen ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte. Seit letztem Sommer ist dort eine nationalkonservative Regierung an der Macht, die die Arbeit von Hilfsorganisationen erschwert.

Der Wind hat sich also gegen die Flüchtlinge gedreht.

Die griechische Regierung reagiert auf Flüchtlinge mit Tränengas und sogar scharfer Munition. An der griechisch-türkischen Grenze wurde ein syrischer Flüchtling erschossen. In der Ägäis gerieten Schiffe in Seenot, doch die Küstenwache, die in Sichtweite war, griff nicht ein. Wir haben erlebt, wie Boote der Küstenwache sogar absichtlich Wellen erzeugten. Auf einem Video ist zu sehen, wie die Küstenwache einem Flüchtligsboot vor den Bug schießt, um es zum Kentern zu bringen. Von den Türken kannten wir das, bei den Griechen ist das neu.

Auf der anderen Seite ist Griechenland auch im Stich gelassen worden. Hat die EU die letzten fünf Jahre geschlafen?

Das ist der dritte Baustein für die aktuelle Krise: Der Rest von Europa hat Griechenland allein gelassen.

Was muss die EU jetzt tun?

Die Camps müssen geräumt werden. Und zwar nicht mit Tränengas und Abschiebungen, weil es hier um Menschen geht, die ihren Schutzanspruch prüfen lassen wollen. Wir müssen jetzt schnell großzügige Kontingente aus den Inseln holen und in den EU-Mitgliedsstaaten aufnehmen. Wir müssen Griechenland entlasten und den Menschen, die verwahrlost in Camps hausen, eine menschenwürdige Unterkunft geben. Sie brauchen rechtsstaatliche Asylverfahren. Das ist keine Frage von Nettigkeiten, sondern internationales Recht, das uns dazu verpflichtet. Und wir dürfen uns von Erdoğan nicht weiter erpressen lassen. Wenn wir humanitär reagieren würden, hätte er nichts in der Hand.

Sie sind nicht nur in der Flüchtlingsarbeit engagiert, sondern sind auch Pastor. Was sagen Sie als Christ dazu?

Ich lese seit einiger Zeit vermehrt im Buch der Sprüche und bin erstaunt, wie häufig darin die Rede davon ist, Notleidenden zu helfen. Menschen in Not zu helfen, das ist nicht links oder liberal, sondern biblisch. Gleichzeitig setzen auch manche Christen noch auf Abschreckung. Da verschlägt es mir die Sprache. Seit dem Jahr 2000 sind 30.000 Menschen im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken. Ich frage mich: Wie viele müssen noch ertrinken, damit wir verstehen, dass Abschreckung nicht funktioniert?

Alexander Hirsch ist Leitender Pastor der Anskar-Kirche in Marburg und zudem Gesamtleiter der Anskar-Kirche Deutschland. Mit dem Verein „Offene Arme – Hoffnung für Chios“ unterstützt er die Flüchtlingsarbeit in Griechenland.

Die Fragen stellte Nicolai Franz.

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen