Mit Kerzen und Gebeten

Den Jahreswechsel 1989 feierte Berlin unter dem Brandenburger Tor. Ost und West vereint. Am Abend des 9. November war die Mauer gefallen. Ein harmloser Begriff für das Ende des DDR-Grenzregimes in Gestalt tief gestaffelter Anlagen einer mörderischen Trennlinie. Christen in der DDR zählen zu den Wegbereitern. Von Egmond Prill
Von PRO
Den Jahreswechsel 1989/90 feierten Menschen aus der DDR und der Bundesrepublik gemeinsam

Wir waren dabei, als am Silvesterabend 1989 spontan Zehntausende am Brandenburger Tor feierten, meine Frau Heidrun und ich. Nahe der S-Bahn-Station Ostkreuz hatten wir noch unsere Berliner Wohnung, obwohl wir seit 1986 bereits nahe Aue im Erzgebirge wohnten und arbeiteten. Aber diesen Moment der Geschichte wollten wir in Berlin erleben, denn so etwas gibt es nur einmal im Leben. Wenige Wochen zuvor war daran nicht zu denken.

Am 5. Oktober schaute ich aus unserer Berliner Wohnung und sah, wie Polizei und Militärfahrzeuge parallel zur Frankfurter Allee Stellung bezogen. Es war bereits später Abend. Mir liefen Tränen wie Wasserbäche über die Wangen. Denn das war kein Manöver, das war Ernst. Das war die Vorbereitung der Staatsmacht für den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober und die erwarteten Proteste. Und dann war es an jenem Abend so, dass im „Palast der Republik“ Erich Honecker und seine Getreuen feierten und draußen viele Menschen das Ende dieser Regierung forderten. Die Staatsmacht knüppelte und verhaftete.

„Die Mächtigen kommen und gehen und auch jedes Denkmal einst fällt. Bleiben wird nur, wer auf Gottes Wort steht, dem sichersten Standpunkt der Welt“, so dichteten es Theo Lehmann und Jörg Swoboda Anfang der Achtzigerjahre Foto: C. Irion
„Die Mächtigen kommen und gehen und auch jedes Denkmal einst fällt. Bleiben wird nur, wer auf Gottes Wort steht, dem sichersten Standpunkt der Welt“, so dichteten es Theo Lehmann und Jörg Swoboda Anfang der Achtzigerjahre

Stasi, Stacheldraht und Staatsmacht

„Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ Das war im Herbst 1989 die hilflose Antwort des SED-Politbüros in Ostberlin auf die Ereignisse in Dresden, Plauen, Chemnitz und Leipzig. Mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ waren Zehntausende bei Montagsdemonstrationen auf der Straße. Höhepunkt war die große Demo am 9. Oktober 1989 auf dem Leipziger Ring. Die Staatsmacht griff nicht ein, obwohl sie sich Jahrzehnte auf den Tag vorbereitet hatte, da das Volk noch einmal aufstehen würde.

Seit dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 hatte die DDR das Ziel, einen zweiten Aufruhr des Volkes zu verhindern. Es entstand das perfekteste Spitzelsystem der Welt in Form eines Ministeriums für Staatssicherheit mit hunderttausenden großen und kleinen Spitzeln bis hinein in Briefe, Häuser und Gehirne. Und dann erhob sich das Volk – und es fiel kein Schuss. Von keiner Seite. Alle bewaffneten Organe der DDR waren scheinbar entwaffnet. Sie hatten alle die Hand am Abzug, aber der lebendige Gott hatte längst die Hand am Sicherungshebel jeder Waffe. Wie ein Kartenhaus brach zusammen, was 40 Jahre lang gegen das Volk aufgebaut worden war.

Glaube, Gebete und Gottvertrauen

Anfang der Achtzigerjahre bildeten sich im Lande kleine Kreise, die Veränderungen in der DDR als Gebetsanliegen in die Mitte rückten. Aus Montagsgebeten wurden bescheidene Andachten. Wir glaubten oft nicht, was wir beteten, ich zumindest. Rief ich doch anfangs still und später laut und öffentlich: „Herr, zerbrich die Macht derer, die uns regieren“, frei nach Psalm 37,17. Ich fand nicht nur Zustimmung. Es gab große Augen und Verwunderung, als ich 1987 nach einer Andacht die Leute fragte: „Und ihr betet nicht für das Ende der DDR und die deutsche Einheit?“

Nach dem 9. November 1989 konnten Menschen zwischen dem Ost- und dem Westteil Berlins hin und her spazieren. Bis zu diesem Datum war das unvorstellbar. Mehr Impressionen zum Mauerfall in der pro-Bilderstrecke Foto: Christoph Irion
Nach dem 9. November 1989 konnten Menschen zwischen dem Ost- und dem Westteil Berlins hin und her spazieren. Bis zu diesem Datum war das unvorstellbar. Mehr Impressionen zum Mauerfall in der pro-Bilderstrecke

Schon in den Siebzigerjahren wurden innerhalb vor allem der Evangelischen Kirche Stimmen laut, die den sozialistischen Staat in dieser zunehmend totalitären Form ablehnten. In Ostberlin und auch in der Provinz wurden die Kirchen zu einem Raum für den offenen Austausch von Gedanken und Meinungen auf der Grundlage des Glaubens an Jesus Christus. Interessant ist, dass mit dem gleichen Anspruch des Glaubens sich die offizielle Kirche mit dem von Pfarrer Horst Kasner geprägten Begriff „Kirche im Sozialismus“ identifizierte. Bischof Albrecht Schönherr formulierte 1971: „Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus sein.“ Im Spitzengespräch mit Schönherr und anderen am 6. März 1978 wurde diese Standortbeschreibung von Honecker und der SED-Führung bestätigt.

In den Gemeinden freilich wuchs die Opposition zu dieser Stellungnahme und zum Staat. In Ostberlin waren es Kreise um Pfarrer Rainer Eppelmann, Wehrdienstverweigerer, Umweltschützer und Friedensbewegte, die sich organisierten. Oft waren es vom schlichten Bibelglauben geprägte Menschen, die sich gegen den totalitären Staat, dessen Anspruch auf Allmacht und Alternativlosigkeit, stellten. Herausragend war das Fanal von Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich am 18. August 1976 vor seiner Kirche öffentlich verbrannte. Weniger spektakulär war das Zeugnis tausender junger Christen, die sich der staatlichen Jugendweihe verweigerten und in ihrer Konfirmation nicht nur ein Bekenntnis zu Jesus sahen, sondern auch die Absage an die allumfassende SED-Herrschaft. Ab 1978 wurde mit dem „Wehrkunde-Unterricht“ die Militarisierung der Jugend verstärkt. Mit dem Aufruf „Schwerter zu Pflugscharen“ wuchs der Widerstand gegen diese Politik. Dies alles mündete in die großen Gottesdienste mit vollen Kirchen im Herbst 1989.

Ulrich Kasparick, 61, war in den Achtzigerjahren Stadtjugendpfarrer in Jena. 19 Spitzel waren auf ihn angesetzt – auch Mitarbeiter der Kirche, erzählte er im Gespräch mit pro. Seine Erfahrung: Nur einzelne Kirchenleute haben ihre Räume für Oppositionelle geöffnet und die sich damals eingemischt. Foto: Ulrich Kasparick
Ulrich Kasparick, 61, war in den Achtzigerjahren Stadtjugendpfarrer in Jena. 19 Spitzel waren auf ihn angesetzt – auch Mitarbeiter der Kirche, erzählte er im Gespräch mit pro. Seine Erfahrung: Nur einzelne Kirchenleute haben ihre Räume für Oppositionelle geöffnet und die sich damals eingemischt.

Die Nacht, als die Glocken schwiegen

Dreißig Jahre danach fragen viele: Was ist daraus geworden? Waren die Kirchen nicht zu schnell wieder leer? Am 3. Oktober 1990 wurde die Einheit Deutschlands und damit das Ende der sozialistischen DDR gefeiert. Landesweit blieben die Kirchenglocken stumm. Die größten Ereignisse unserer jüngeren Geschichte, das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa und die friedliche Revolution, blieben ohne Echo der Kirchen. Das Schweigen der Glocken war 1990 der Sündenfall der offiziellen Kirche.

Wir dürfen fragen: War das am Ende doch der Triumph der „Kirche im Sozialismus“? Gott hatte diesem Land und Volk, diesem schuldbeladenen Deutschland, ein Wunder geschenkt und so der Welt gezeigt, ER ist ein gütiger Gott. Denn der 9. November 1989 ist das Wunder der Geschichte vor dem Hintergrund jenes 9. November 1938. Die Bibel zeigt uns Gott als den Herrn und Heiland der Geschichte, doch die Kirche blieb sprachlos, ist es bis heute und so gehen die Leute weg.

Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 5/2019 des Christlichen Medienmagazinr pro. Sie können die pro hier bestellen.

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